Das Trauerspiel um Zahlungsdienstleister und FinTech Wirecard

Wirecard-Hauptsitz in Asching
Bild: Wirecard

Mit dem 1999 gegründete Zahlungsdienstleister Wirecard ist ein FinTech am Straucheln, das einen kometenhaften Aufstieg hingelegt hat.

Der Begriff FinTech war noch gar nicht richtig erfunden, als beseelte Gründer und Innovatoren mit intelligenter Technologie Zahlungsdienstleistungen und Financial Technology ein neues Gesicht gegeben haben. Bemerkenswert, wie ein Startup in zwei Jahrzehnten zu einem globalen Zahlungsdienstleister mit weltweit über 5'800 Mitarbeitern in 26 Ländern geworden ist.

Das Unternehmen mit Konzernzentrale in Aschheim bei München setzt seit Jahren regelmässig Meilensteine – in Innovationen, Geschichte und Entwicklung. Zeitweise toppte Wirecard den Wert der Deutschen Bank (2018), mit der Aufnahme in den Deutschen Aktienindex (DAX) verdrängte das FinTech im September 2018 die Commerzbank aus dem DAX. 

Ein FinTech und DAX-Konzern vermisst fast zwei Milliarden Euro, wie bitte?

Was die britische Financial Times seit längerem schon unterstellt, scheint sich auf die eine oder andere Weise zu bewahrheiten. Das jammervolle Trauerspiel der letzten Tage um Wirecard ist in seinen (spärlichen) Fakten und dramatischen Auswirkungen hinlänglich bekannt, die Wirtschaftsmedien sind voll mit schlechten Nachrichten.

Dass einige Spesenkonten nicht stimmen und temporäre Minimal-Differenzen entstehen, kann jedes FinTech nachvollziehen. Dass einem Unicorn und Vorzeige-FinTech mit grossen Erfolgen und einem DAX-Konzern 1,9 Milliarden Euro abhanden kommen, versteht in der aktuell vorgestellten Dramaturgie niemand.

Unabhängig davon, ob die Staatsanwaltschaft München in ihren Untersuchungen letztenendes Bilanzmanipulationen, Betrug im eigenen Hause oder einen "gigantischen Betrugsfall" mit Wirecard als Opfer aufdeckt – der Schaden ist angerichtet und zahlreiche Fragen sind vorderhand unbeantwortet.

Der Schaden

Vor, mit und auch nach seinem Rücktritt vergangenen Freitag ist Vorstandschef und CEO Markus Braun der eigene Laden (Braun hält rund 7 Prozent der Anteile) buchstäblich um die Ohren geflogen. Vor allem deshalb, weil ein Unternehmen, das mit die globale Zahlungsabwicklung organisiert und mit dem Geld seiner Kunden arbeitet, sich einen Sündenfall nicht erlauben darf: nicht zu wissen, wo 1,9 Milliarden Euro abgeblieben sind. Kein Klacks aus der Spesenbuchhaltung, sondern rund ein Viertel der Bilanzsumme des Unternehmens.

Der Reputationsschaden ist gewaltig und dürfte schwer zu kitten sein. Dazu kommt, dass Wirecard noch sehr viel stärker ins Trudeln geraten würde, sollten die kreditgebenden Banken die laufenden Kreditvereinbarungen nicht verlängern – dem Vernehmen nach in Höhe von knapp 2 Milliarden Euro.

Wie sich die Situation heute darstellt, wird das Konsortium der Banken die laufenden Kredite nicht kündigen, nur: unter den aktuellen Umständen dürften bestehende Bedingungen durch deutlich ungünstigere Konditionen und vor allem durch neue Spielregeln ersetzt werden.

Mit zum angerichteten Schaden gehört der Kurseinbruch, der das Vertrauen der Aktionäre in ein zukunftsgerichtetes Unternehmen auf Dauer erschüttern dürfte: innerhalb von zwei Tagen ist der Kurs pro Aktie von über 100 Euro um rund drei Viertel auf gut 25 Euro eingebrochen.

Dass die Ratingagentur Moody's die Wirecard-Aktie gleich um mehrere Stufen auf Ramschniveau zurückgestuft hat, erstaunt nicht, zeigt jedoch die mögliche Fallhöhe und lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

Die unbeantworteten Fragen

Im Moment bleiben viele Fragen offen. Allem voran, zu welchen Ergebnissen die aktuell ermittelnde Staatsanwaltschaft München kommen wird. Oder zum Beispiel, wer von Investorenseite nun gegen Wirecard klagen will und welche Auswirkungen das haben wird.

Im Zentrum stehen jedoch vor allem Vertrauensfragen, die alle Stakeholder interessieren und welche das Unternehmen, den Vorstand und die Führungscrew direkt betreffen:

Haben die 1,9 Milliarden Euro tatsächlich existiert und sind auf geheimnisvollen und bisher nicht bekannten Wegen verschwunden?

Wenn ja, wie kann es sein, dass Vorstand und Geschäftsleitung erst nach einem verweigerten Testat von Wirtschaftsprüfer Ernst & Young (EY) die gigantische Summe von 1,9 Millionen Euro vermissen, die auf Konten der philippinischen Grossbanken BDO Unibank und Bank of the Philippine Islands (BPI) liegen sollte? Die beiden Banken wissen von nichts und sagen: "Wirecard ist kein Kunde von uns". Vom Treuhänder in Manila, der das Geld im Auftrag von Wirecard für das Asiengeschäft verwalten soll, war offenbar bisher nichts Aufklärendes zu hören.

Wenn nein, wie und durch wen verantwortet hat die nicht vorhandene Summe den Weg in die Bilanz gefunden?

Im einen wie im anderen Fall: Wie funktionieren bei Wirecard die Kontrollmechanismen, welche bereits kleinere Katastrophen, sicher aber den vorliegenden Super-GAU verhindern sollen?

Oder alles ganz anders?

Falls alles sich ganz anders verhält und, wie auch schon vermutet, nur eine Falschbuchung schuld am ganzen Desaster sein könnte: Gut, dass sich das bald aufklären wird, erstaunlich jedoch, dass Beträge von insgesamt 1,9 Milliarden keine offensichtlichen Spuren hinterlassen, die schnell und einfach rekonstruiert werden können und zur vermissten Summe führen.

Der zurückgetretene Ex-Vorstandschef Markus Braun geht aktuell davon aus, dass Wirecard selbst Opfer eines Betruges geworden sein könnte. Sollte sich Brauns Befürchtung bewahrheiten, stellt sich eine weitere Frage:

Wie kann es sein, dass Management und Vorstand von Verlusten dieser Grössenordnung und von Nachrichten dieser Güteklasse wie vom Blitz aus heiterem Himmel getroffen werden, überrascht und eher sprachlos reagieren und in der Kommunikation gegen aussen kein wirklich gutes Beispiel für Krisenkommunikation liefern? Immerhin steht nicht ein junges FinTech ohne Erfahrung im Zentrum des Orkans, sondern Wirecard, ein DAX-Konzern mit Hintergrund und Erfahrung.

Es ist angerichtet

Ob  und wie es mit Wirecard weitergehen wird, hängt mit dem Ausgang der Untersuchungen und mit der Beantwortung der offenen Fragen zusammen. Sicher ist allerdings heute schon, dass Wirecard nicht zu seiner Form vor dem Skandal zurückfinden wird. Der neue Firmenchef, James Freis, operiert auf einem Trümmerfeld und er hat gewaltige Aufgaben vor sich, die im Moment jedoch nur in Richtung einer Schadensbegrenzung wirken können.

Je nach Entwicklung in den nächsten Tagen können sich die Aufräumarbeiten für Freis hinziehen oder es ergibt sich die Möglichkeit eines Neustarts unter geänderten Voraussetzungen und mit neuer Besetzung in Vorstand und Aufsichtsrat. Sollte letzteres zutreffen, wird sich zeigen, ob und wie der Zahlungsdienstleister sein ramponiertes Image und das verspielte Vertrauen wieder herstellen kann.

Ein Blick auf das leicht angekratzte Robin Hood-Image von FinTechs

Zugegeben, ein Nebenaspekt, zudem leicht romantisiert eingefärbt: FinTechs sind nicht unbedingt die jungen Wilden, aber immerhin oftmals die Jungen, die "es anders machen wollen". Das tun sie auch. Mit Engagement, mit genialen Innovationen und meistens mit einer wahrnehmbaren Portion von Idealismus, die Fairness neu und anders definiert. Und lebt. Das gilt auch für FinTechs, die in die Jahre gekommen und mit späterer Reife im DAX gelandet sind. Soweit die Sage.

Deshalb bleibt zu wünschen, dass Markus Braun recht behält und Wirecard im schlimmeren Fall Opfer eines "gigantischen Betrugs" geworden ist oder im besten Fall einfach falsch gebucht hat. Das würde wahrscheinlich nicht viel am Schicksal von Wirecard ändern, an der Reputation seiner Macher schon. Und die Robin Hood-Etikette von FinTechs würde unbefleckt bleiben, weil die traurige Geschichte eines Vorzeige-FinTechs mit Fahrlässigkeit, Nachlässigkeit, fehlenden Kontrollen, Pech oder auch schlicht mit Dummheit erklärt werden könnte.