Digitaltag Schweiz 2019

«Seid Helden oder verlasst leise das Gebäude!»

Newsroom am 3. Digitaltag Schweiz
Mittendrin – Newsroom am Digitaltag Schweiz im Hauptbahnhof Zürich (Bilder: Patrick Comboeuf)

Gedanken zum dritten Digitaltag der Schweiz – ein Weckruf gegen die wachsende digitale Müdigkeit.

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Aktuelle Studien belegen, dass Digitalisierung und Digitale Transformation sowohl bei betroffenen Mitarbeitern, noch mehr aber bei verantwortlichen Führungskräften immer weniger positive Assoziationen wecken. Oft macht sich nach der Enttäuschung über gescheiterte oder nur mässig erfolgreiche Projekte sogar eine gewisse Digitalisierungsmüdigkeit breit. Der Autor plädiert für weniger Innovations-Hüpfburg-Stückwerk, dafür für mehr (De-)Mut und echtes "Jetzt-erst-recht-Engagement" auf allen Führungsebenen.

Die Schweiz feiert heute den dritten Digitaltag. Obwohl "begehen" wohl treffender ist als "feiern". Denn weder ist der 3. September irgendwo ein Feiertag in der Schweiz, noch dürfte die verantwortliche Organisation Digital Switzerland ernsthaft bereits die Erfüllung ihrer Mission feiern wollen ("Making Switzerland a Digital Innovation Hub. Worldwide.").

Nun, ein Augenschein vor Ort am Zürcher Hauptbahnhof, einem der über ein Dutzend schweizweit verteilten Hotspots, zeigte viele neugierige und gut gelaunte Besucher. Bloss: Rentner, Schüler, Durchreisende und zum Lunch verabredete Arbeitnehmende findet man auch an den meisten anderen Wochentagen fast ebenso zahlreich am grössten Schweizer Verkehrs- und Shopping-Knotenpunkt an der Limmat.

Die Nachfrage- oder Kundenseite war präsent am nationalen Digitaltag. Aber wo waren all die Denker und Lenker, welche mit ihren Strategien und Projekten die Schweiz in eine prosperierende digitale Zukunft führen? An ihren Schreibtischen? An einer Gremiensitzung? Ganz unter sich im "Digitalzug"?

Falls dem so sein sollte, ist das eine fahrlässig verspielte Chance.


Digitalisierer gehören an die Front

Im Silicon Valley diskutieren viele Mitarbeitende und Führungskräfte der Tech-Giganten und von teilweise milliardenschweren Startups fast tagtäglich öffentlich, welche Strategien, Technologien und Geschäftsmodelle auf uns zukommen. Als "Botschafter der Zukunft" tauschen sie sich nicht nur an Meetups mit ihren gleichgesinnten Peers aus, sondern pflegen den Dialog über AI, IoT, Blockchain & Co. auch in Schulen oder Versammlungen in ihren Wohngemeinden. 

Digitale Realitäten kollidieren mit bewährten Führungsmodellen

Die Digitale Transformation führt zu neuen Organisationsformen, welche auch eine Umverteilung von Macht und Hierarchien bedeuten. Die Führungselite tut gut daran, aus ihren Elfenbeintürmen und geschlossenen Cüpli-Zirkeln hinabzusteigen und sich diesem Diskurs zu stellen. Denn nur im Dialog mit ihren Mitarbeitenden, Kunden und der Gesellschaft lassen sich die zentralen Herausforderungen rund um die digitale Schweiz wirklich meistern:

  • Die noch immer sehr unausgewogene Diversität in den Technologie-Abteilungen der Unternehmen.
  • Der häufig beklagte Fachkräftemangel.
  • Durchgängige digitale Aus- und Weiterbildungskonzepte von der Volksschule bis zur Umschulung von Ü-50-Facharbeitern.
  • Der nach wie vor schwierige Zugang zu Risikokapital für Startups zur Finanzierung der Wachstumsphasen nach erfolgreicher Seed-Runde
  • Fehlende Rollenmodelle und Vorbilder.
  • Die Inexistenz von Escape-Rooms oder Fluchträumen für überforderte Mitarbeitende (und noch mehr für deren Vorgesetzte) zur Prävention von gesundheitlichen bzw. finanziellen Schäden (durch bewährte und damit falsch konzipierte Projektvorhaben). Nur am Rande: gemäss einer kürzlich von Google mitverantworteten Studie ist psychologische Sicherheit mit der wichtigste Hebel, um das kreative Potenzial von Menschen in kundenrelevante Lösungen zu verwandeln.
  • Eine Dialogplattform für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, um eine Doktrin-freie Debatte darüber anzustossen, wie Wohlstand durch digitale Innovation geschaffen und dann gerechter verteilt werden soll (umgekehrt geht nicht, sorry!).

Wenn stattdessen auch wir Medien aber lieber Datenschutz-Skandale, AI als Jobkiller oder lückenhafte rechtliche Rahmenbedingungen monieren, braucht sich niemand zu wundern, wenn beim Thema Digitalisierung eine immer grössere Müdigkeit oder gar Argwohn um sich greift. Das ist nicht nur schade, das ist auch gefährlich. Vor allem deshalb, weil die meisten Unternehmen erst am Anfang dieser Transformation stehen, objektiv betrachtet. 


Wie bekommen Unternehmen und Gesellschaft wieder Lust auf Zukunft?

Nicht erst seit dem bereits Ende des letzten Jahrtausends erschienenen Essays "Märkte sind Gespräche" aus dem Cluetrain Manifesto wissen wir, dass die Antworten auf viele zeitgenössische Fragen in der Vergangenheit zu finden sind. Märkte waren Orte, wo Menschen sich trafen, um über ihre und über die Projekte und Arbeiten der anderen zu sprechen. Gespräche waren (und sind) ein Akt von echter und tiefsinniger Menschlichkeit. Der Digitaltag wäre genau eine solche Plattform gewesen, um sich im Diskurs neuen Organisationsformen für Unternehmen und Gesellschaft anzunähern, die mehr Freiheit und Kreativität erlauben, damit wir unser Land und unsere Volkswirtschaft fit für Innovation und die Zukunft machen.

ROI = Return on Involvement

Im Zeitalter der Digitalisierung gelten die Erfolgsrezepte der analogen Vergangenheit immer weniger. Viele Messgrössen verschieben sich. Was bleibt sind Begegnungen mit Menschen, die zuhören, die ihre Erwartungen, Fragen, Ängste äussern und die von uns, der digitalen Gemeinschaft der Schweiz, zu Recht Antworten erwarten.

Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?

Ein Anfang wurde heute am dritten Digitaltag gemacht. Lasst uns die Debatte mit Verve weiterführen und mit greifbaren Erfolgsbeispielen konkretisieren. Zum Beispiel am Digital Economy Award, wo alljährlich Projekte und Initiativen mit Vorbildcharakter und vor allem mit geistiger Wertschöpfung ausgezeichnet werden. Am 28. November trifft sich aber auch das Who is Who der digitalen Macher Helvetiens im Hallenstadion Zürich. MoneyToday.ch lässt als Medienpartner im Vorfeld dieses nächsten grossen digitalen Get-Togethers in den nächsten Wochen Menschen zu Wort kommen, welche diesen Geist verinnerlicht haben.

Stay tuned!


1tl;dr ist die Abkürzung für "too long; didn’t read" (Zu lang, nicht gelesen). Sie wird zum Beispiel in Foren oder Blogs als Antwort für einen als unnötig lang empfundenen Beitrag verwendet. In manchen Fällen wie hier, wird die Abkürzung auch direkt vom Autor eines Beitrags genutzt, um eine kurze Zusammenfassung einzuleiten

Der Autor: Patrick Comboeuf

Patrick Comboeuf ist einer der profiliertesten digitalen Vordenker der Schweiz. Neben dem Fachgebiet Künstliche Intelligenz im Finanzwesen berichtet er für MoneyToday.ch über Themen wie Digital Finance, Blockchain, DeFi, Web3 sowie ESG & Sustainable Investing.

Mehrere Wochen im Jahr verbringt er im Silicon Valley und anderen Hotspots der digitalen Welt. Seit 2013 arbeitet er freiberuflich für verschiedene renommierte Bildungsinstitutionen, unter anderem als Studiengangsleiter für Post-graduate Masterprogramme wie den CAS AI in Finance & DeFi/Web3 Economist an der HWZ Hochschule für Wirtschaft in Zürich.

Hauptberuflich unterstützt er etablierte Unternehmen sowie aufstrebende Startups als Interims-Manager & Facilitator dabei, ihre Geschäftstätigkeit friktionsfrei in einer "AI First"-Welt zu verankern.

Als früherer Head of Digital Experience bei Swiss Life und als Leiter Digital Business bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) war er federführend verantwortlich für eine Vielzahl von Initiativen, welche die digitale Kundenerfahrung in eine neue Sphäre hoben.

Neben seiner Redaktorentätigkeit für MoneyToday.ch teilt er sein Wissen und seine Einschätzung auch sozial-medial auf LinkedIn und X/Twitter sowie als Prakademiker, Speaker, Moderator oder Podiumsgast auf Konferenzen im In- und Ausland.