Neurodiversität am Arbeitsplatz: Ein unerschlossenes Potenzial für Produktivität und Profit

Iris Gallmann, CEO von Auticon Swiss
Iris Gallmann – eine CEO operiert am Puls von Märkten und Menschen mit aussergewöhnlichen Fähigkeiten (Bild: Auticon)

Was man über Neurodiversität wissen sollte – und bisher vielleicht nicht zu fragen wagte.

Neurodiversität ist ein Konzept, das die Vielfalt in der menschlichen Gehirnstruktur und Informationsverarbeitung anerkennt und wertschätzt. Es geht davon aus, dass Unterschiede in der neurologischen Entwicklung, wie Autismus, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), Dyslexie (Lese-Rechtschreib-Störung) und andere, keine Defizite sind, sondern Variationen des menschlichen Gehirns und der Denkweise. Das Konzept der Neurodiversität betont, dass alle Menschen ihre eigenen Stärken und Limitierungen haben, unabhängig davon, ob sie neurotypisch oder neurodivers sind. Es wird nach dem heutigen Stand angenommen, dass einer von sieben Menschen "neurodivers" ist. Diese Zahlen entwickeln sich schnell nach oben, aufgrund der Anzahl von Erwachsenendiagnosen.

Für eine lange Zeit wurden die verschiedenen Konditionen vor allem bei Kindern erforscht und diagnostiziert. Gerade Autismus wurde lange für eine "Krankheit" bei Jungen gehalten. Mittlerweile weiss man aber, dass es keine Krankheit ist, sondern eben eine andere Art des Aufbaus der Hirnstruktur. Und man weiss auch, dass dies sich nicht "auswächst" mit dem Alter, sondern eher seine Form im Erscheinungsbild ändert. Das hat dazu geführt, dass allein in den letzten 20 Jahren die Autismusdiagnosen um 787 Prozent gestiegen sind. Natürlich nicht, weil es mehr Autisten gibt, sondern weil eben das Bewusstsein der Gesellschaft und die Wissenschaft sich in diesem Bereich stark weiterentwickelt haben.

Viele neurodiverse Menschen erhalten heutzutage ihre Diagnose spät, da das Bewusstsein zum Thema immer mehr zunimmt. Seit man beispielsweise weiss, dass die Genetik eine wichtige Rolle spielt, lassen sich immer mehr Eltern von diagnostizierten Kindern testen. Dabei ist es nicht selten, dass ein oder sogar beide Elternteile auch eine Diagnose erhalten. Dieser Zusammenhang hat die Anzahl der Erwachsenendiagnosen erheblich beeinflusst.

Ich selbst habe erst kürzlich – mit 40 erst – meine ADHS-Diagnose erhalten. Dies habe ich aus Neugierde testen lassen, nicht aus einem Leidensdruck heraus. Für mich war es vor allem spannend, die Muster besser zu verstehen, die bei mir selber auch greifen. Aber für viele Menschen kommt die Erwachsenendiagnose als grosse Erleichterung, weil sie ein Leben lang unter gewissen Dingen gelitten haben, die sie selber nicht einordnen und verstehen konnten.

Neurodiverse Menschen sind oft auch hingezogen zu Finanz-, Wissenschafts- und IT-Berufen – in diesen Branchen sind sie überproportional gut vertreten. Zum Beispiel wurde eine Studie in UK durchgeführt, bei welcher die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sämtlicher grosser Techkonzerne gefragt wurden, ob sie sich als neurotypisch oder neurodivers bezeichnen würden. Mehr als die Hälfte der Befragten – 53 Prozent (!) – hat geantwortet, dass sie sich (diagnostiziert oder auch nicht) als neurodivers bezeichnen.

Diese Zahlen zeigen, dass es kein abgrenzendes "wir" und "sie" gibt – wir sind eine Gesellschaft, die extrem durchmischt ist. Eine Gesellschaft, in der wir Hand in Hand miteinander leben und schon immer gelebt haben. Was neu ist, ist das Bewusstsein für diese Unterschiede und wie man die verschiedenen Stärken besser nutzen und die Limitierungen besser managen kann.

Autismus ist kein Systemfehler, sondern ein anderes Betriebssystem

Autismus, als Teil des breiteren Spektrums der Neurodiversität, ist eine neurologische Besonderheit, die die Art und Weise beeinflusst, wie Menschen kommunizieren, interagieren und die Welt um sie herum wahrnehmen. Menschen aus dem Autismus-Spektrum können ein tiefes Interesse an bestimmten Themen haben, aussergewöhnliche Fähigkeiten in Bereichen wie Mustererkennung und Detailgenauigkeit besitzen und eine einzigartige Art der Informationsverarbeitung aufweisen. Autismus ist vielfältig in seinen Ausprägungen, keine zwei Menschen aus dem Spektrum erleben ihre Besonderheiten genau gleich. Generell ist es aber oft so, dass die sozialen Stärken etwas weniger ausgeprägt sind bei Autistinnen und Autisten. Das kann sich beispielsweise ausdrücken in Mühe mit Körperkontakt, Augenkontakt oder Mimiklesen. Dafür sind ihre kognitiven Fähigkeiten oft überdurchschnittlich ausgeprägt.

Die wirtschaftliche Bedeutung von Neuroinklusion

Neuroinklusion bezeichnet die Inklusion von neurodiversen Menschen. Die Anerkennung von Neurodiversität fordert uns auf, die einzigartigen Beiträge, die jeder Einzelne, unabhängig von seiner neurologischen Konfiguration, für die Gesellschaft leisten kann, zu schätzen und zu nutzen. Es ermutigt uns, Umgebungen zu schaffen, die auf die Bedürfnisse aller Individuen zugeschnitten sind, um allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu ermöglichen, ihre besten Leistungen zu erbringen.

Leider wird die Inklusion von neurodiversen Mitarbeitern immer noch zu sehr als "sozialer" Kompromiss gesehen, statt als die Ressource, die sie tatsächlich für ein Unternehmen darstellen, um die Wirtschaftlichkeit zu verbessern. Durch die Betonung von Inklusion und die Wertschätzung der einzigartigen Fähigkeiten, die neurodiverse Menschen mitbringen, können Unternehmen und Gemeinschaften von einem breiteren Spektrum an Perspektiven, Lösungsansätzen und Innovationen profitieren. Die Anerkennung von Neurodiversität ist somit nicht nur ein Schritt hin zu einer gerechteren Gesellschaft, sondern auch ein strategischer und wirtschaftlicher Vorteil in einer immer komplexeren und vernetzten Welt.

Wie sehen diese Vorteile aus?

Die positiven Effekte sind vielfältig und wirken sich zum Beispiel wirtschaftlich sowie auch in Firmenkultur und Teamdynamik aus.

Wirtschaftliche Vorteile
Neurodiverse, gerade autistische Personen, bringen oft spezifische Stärken in ein Team ein. Zum Beispiel aussergewöhnliche Konzentration (Hyperfokussierung), Detailgenauigkeit, einen sehr hohen Qualitätsanspruch und analytisches Denken – Stärken, die besonders in Bereichen wie IT und Finanzen sehr wertvoll sind. Die Produktivität und Qualität wird dadurch in der Regel stark gesteigert, was natürlich einen direkten Einfluss auf Projektbudgets hat. Gerade kürzlich hat ein Kunde von uns begeistert erzählt, dass einer unserer autistischen Consultants ein Projekt, für welches sechs Monate eingeplant waren, in einem Monat beendet hat und weit mehr Fehlertypen gefunden hat, als sie erwartet haben.

Teams mit neurodiversen Mitgliedern profitieren von einer breiteren Palette an Perspektiven und Denkmustern, was zu kreativeren und innovativeren Lösungen führen kann. Im Silicon Valley werden zum Beispiel autistische Teams genutzt, um Innovation und R&D in einem sehr umkämpften Wettbewerbsmarkt zu verbessern und zu beschleunigen.

Vorteile für Firmenkultur und Teamdynamik
Neurodiversität am Arbeitsplatz fördert eine Kultur der Inklusion, in der Unterschiede geschätzt und gefeiert werden. Dies trägt zur psychologischen Sicherheit bei, zu einem Umfeld, in dem sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohl fühlen. Das schafft die besten Voraussetzungen, um Ideen zu äussern, Fragen zu stellen und Fehler zuzugeben, ohne Angst vor Ausgrenzung oder Bestrafung. Eine solche Atmosphäre der Offenheit und Transparenz ist der Nährboden für Produktivität, Kreativität und Innovation.

Ausserdem verringert die Wertschätzung von Vielfalt und die aktive Förderung einer inklusiven Kultur die Mitarbeiterfluktuation erwiesenermassen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich respektiert und wertgeschätzt fühlen, sind eher geneigt, langfristig bei einem Unternehmen zu bleiben. Dies senkt nicht nur die Kosten, die mit der Rekrutierung und Einarbeitung neuer Mitarbeiter verbunden sind, es trägt auch dazu bei, wertvolles Wissen und Fähigkeiten innerhalb des Unternehmens zu erhalten.

Darüber hinaus ziehen Unternehmen, die sich für neurodiverse Inklusion stark machen, sowohl Mitarbeiter als auch Kunden an, die grossen Wert auf soziale Verantwortung und ethische Geschäftspraktiken legen. Diese Ausrichtung auf gemeinsame Werte schafft eine starke Bindung und Loyalität, was wiederum die Markenstärke und den Kundenstamm erweitert. In einer Zeit, in der Konsumenten und Arbeitssuchende zunehmend Unternehmen bevorzugen, welche soziale Verantwortung ernst nehmen, kann diese Positionierung als entscheidender Wettbewerbsvorteil wirken.

Letztlich führt die Förderung von neurodiversen Talenten zu einer Win-Win-Situation: Sie verbessert nicht nur die Firmenkultur und die Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sie wirkt sich auch direkt auf die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens aus. Durch erhöhte Produktivität, Innovation, geringere Fluktuation, erhöhte Mitarbeiterbindung und die Anziehungskraft auf gleichgesinnte Kunden und Talente führt die Inklusion von neurodiversen Mitarbeitern zu nachhaltigem Wachstum und Erfolg.

Aus der Sicht von Auticon Schweiz – wir stellen zu 100 Prozent autistische IT Consultants ein und auch das Management Team (durch Zufall und weil offen darüber gesprochen wird) besteht zu 70 Prozent aus neurodiversen Mitarbeitern –  kann ich diese Vorteile und Auswirkungen aus persönlichem Erleben mit voller Überzeugung bestätigen.

Die Autorin: Iris Gallmann

Iris Gallmann, CEO von Auticon Swiss

Als visionäre CEO der Auticon Swiss revolutioniert Iris Gallmann die IT-Branche, indem sie ein Business führt, das die einzigartigen Stärken des autistischen Denkens nutzt.

Mit ihrer tiefen Leidenschaft für Menschen und Technologie treibt Iris Innovation voran, inspiriert Teams und Kunden und fördert eine Kultur kontinuierlichen Lernens und digitaler Transformation. Sie steht für mutige Führung und den Glauben an das Potenzial jedes Einzelnen, Veränderung zu gestalten und Neues zu schaffen.