Interview

Ein Gespräch mit Macherinnen und Machern, welche Spielräume für Veränderungen schaffen

Das Team des Startups Ting: Ondine Riesen, Ralph Moser, Sasa Löpfe, Silvan Groher, Juri Seger
Das Team des Startups Ting: Ondine Riesen, Ralph Moser, Sasa Löpfe, Silvan Groher, Juri Seger (Bild: Juri Seger | Ting)

Die Ting-Community baut mit monatlichen Beiträgen ein gemeinsames Vermögen auf, das allen Mitgliedern als zeitlich begrenztes Einkommen zur Verfügung steht.

Das Geschäftsmodell des Startups Ting ist mutig und verwegen. Vor allem deshalb, weil es kein Geschäftsmodell im herkömmlichen Sinne ist, mehr ein Gesellschafts-Projekt, das Entwicklung, Innovation, Geld, Community und Umverteilung unter einen Hut bringt – als Möglichmacher-Projekt. 

Mitglieder von Ting zahlen monatlich ein und schaffen damit ein Community-Vermögen, das allen Mitgliedern zur Realisierung von Projekten zur Verfügung steht. Was an der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens kratzt, ist nicht genau das, aber ein bisschen verwandt. Geld teilen folgt nicht der etwas fantasielosen Idee brachialer und deshalb bisher gescheiterter Umverteilungs-Rezepte – die Community finanziert sich selbst, freiwillig und mit Überzeugung.

Was auf den ersten Blick als naive oder romantische Vorstellung belächelt werden könnte, ist bei näherer Betrachtung weder das eine noch das andere. Es ist auch keine abstrakte Vision, die nicht die Kraft hat, über die Theorie hinauszukommen. Die Macherinnen und Macher von Ting haben den Beweis bereits angetreten, dass ihre Idee funktioniert und deshalb auch laufend neue Teilnehmerinnen und Teilnehmer findet. 

Mutig und verwegen bleibt das erstaunliche Gesellschafts-Projekt dennoch, das Geld teilen, in Menschen investieren, Chancen schaffen und dabei die Zukunft gestalten will. Wir wollten mehr wissen und haben das Team von Ting zum Gespräch gebeten.


MoneyToday.ch: Könnt Ihr den Charakter von Ting in drei, vier kurzen Sätzen für unsere Leserinnen und Leser beschreiben?

Ondine: Ting ist mutig, aktuell, relevant und nötig. Ting befeuert die Innovationskraft der einzelnen Mitglieder. Ting schafft Platz für Veränderungen und wirkt wie ein Trampolin für all jene, die gerne tätig werden wollen.

Das Projekt klingt nach bedingungslosem Grundeinkommen light – ist es das?

Sasa: Nein. Ting ist ein soziales Startup, das Menschen dazu bewegt, aktiv zu werden. Wir verteilen die Ressource Geld – mit der Bedingung, es sinnhaft in sich selbst und die Gesellschaft zu investieren.

Am Anfang war die Idee, dann die Frage nach der Startfinanzierung – wer hat Euch finanziert?

Silvan: Die Anschubfinanzierung wurde ermöglich von privaten Gönnerinnen und Gönnern und dem Migros Pionierfonds, die das gesellschaftliche Potenzial unserer Idee erkannt haben.
 

Wer sich die Zeit nimmt über die Zukunft nachzudenken, versteht, dass es neue Lösungsansätze braucht – wir haben einen

Ihr seid ein junges Startup und eine junge Bewegung – wird Eure Idee verstanden, kommt sie an?

Ondine: Die steigende Followerzahlen auf unseren Social Media-Kanälen zeigen deutlich, dass die Idee auf Interesse stösst. Auch registrieren sich seit wir gestartet sind jeden Monat neue Mitglieder, die Lust haben, Geld zu teilen. Auch solche, die nur Geld geben, ohne Absicht, welches zu beziehen.

Seitens Kulturförderung sehen wir das Interesse an unserem Modell wachsen, da auch in der Stiftungslandschaft neue Ansätze gewünscht sind. Auch in alltägliche Gesprächen wird deutlich, dass Leute die Idee sehr positiv bewerten, wenn sie sich darauf einlassen. Aber es braucht meistens einen Moment. Weil der Gedanke, nicht nur Immobilien, Tools und Fahrzeuge zu teilen, sondern auch Geld, für fast alle ganz einfach komplett neu ist. Trotz AHV, Steuern, Vereinsbeiträgen, Genossenschaften und anderem.

Ich denke, wer sich die Zeit nimmt über die Zukunft nachzudenken, versteht, dass es neue Lösungsansätze braucht. Wir haben einen. Das ist für all jene, mit denen wir in Kontakt kommen, erfreulich. Und dann gibt es natürlich immer Leute, deren Menschenbild nicht zulässt zu glauben, dass so was funktioniert. Und solche, die es als unfair empfinden, weil sie ihre Ideen ohne Community haben angehen müssen.

Von wem genau wird die Idee verstanden, wer ist bei Ting an Bord und zahlt monatlich ein?

Sasa: Die Mitglieder haben unterschiedlichste Hintergründe. Sie leben in der Stadt oder auf dem Land und beschäftigen sich mit Zukunftsthemen. Die jüngsten sind Anfang zwanzig, der älteste über achtzig. Wir haben neben Selbstständigerwerbenden, einfache Angestellte, Kreative, Unternehmerinnen und Unternehmer, Studierende, Pensionierte, Singles, Eltern...

...also sehr breit gestreut, aber was verbindet sie alle?

Sasa: Allen gemeinsam ist vielleicht, dass sie Lust haben, etwas Neues auszuprobieren, und den Mehrwert für die Gesellschaft erkennen, wenn sie anderen ermöglichen, sinnvolle Vorhaben umzusetzen.
 

Ting ist keine Profit-Maschine für Einzelne, sondern ein Umlage-Verfahren, das Menschen ermöglicht, eine Veränderung anzugehen, wenn sie nötig ist  – und nicht dann, wenn das Geld vorhanden ist

Kurz auf den Punkt gebracht: Menschen zahlen bei Euch ein, um irgendwann mal Bezüge machen zu dürfen, wenn sie ein Projekt verfolgen möchten, richtig?

Silvan: Genau. Sie zahlen nicht nur für sich ein, sondern auch für die anderen Mitglieder, die aktuell ein Vorhaben umsetzen. Sie investieren in sich selbst und in die anderen.

Was seid Ihr jetzt genau: ein gutes Werk, ein gesellschaftliches Experiment, die Spielwiese von ein paar Visionären, eine Geld-Umverteilungs-Maschine, eine Projekt-Möglichmacher-Plattform, eine Versicherung – oder etwas ganz anderes?

Ondine: Wir sind der Unterschied zwischen "ich würde gerne" und "ich kann es jetzt". Das Innovationspotenzial, das bei uns Teilnehmenden an der Gesellschaft brach liegt, ist enorm. Wir bieten Menschen die Möglichkeit ins Tun zu kommen – Menschen, die bisher aus finanziellen Gründen keine Möglichkeit hatten. Wir sind ein Trampolin. Für Einzelpersonen wie auch für die Gesellschaft.

Kurz etwas Buchhaltung und Zahlen – wie viel Geld kommt von wie vielen Personen rein, wie viel Geld geht an wie viele Personen raus?

Ralph: Im Mai haben rund 450 Mitglieder gut 37’000 Franken in den gemeinsamen Fonds einbezahlt und damit 15 Weiterentwicklungen mit total 35’800 Franken unterstützt. Der Überschuss in diesem Monat fliesst in ein Liquiditätskonto, mit dem man nicht vorhersehbare Schwankungen in den Einnahmen jederzeit ausgleichen kann.
 

Mit Ting haben wir eine Plattform geschaffen, die die Schweiz durch Umverteilung chancengerechter macht

Wer sind die Personen, die Bezüge machen?

Juri: Leute mit einer Idee, mit einem Plan, mit dem Willen und mit dem Know-how, ihre Idee auszuprobieren.

Und welche Projekte werden da realisiert?

Juri: Die Projekte sind so unterschiedlich, wie die Mitglieder es selbst sind. Mike programmiert eine App gegen Foodwaste in Spitälern, Angela vermittelt Permakulturkurse an Kinder, Miriam hat sich selbständig gemacht, Florian hat eine Plattform für Foodkooperationen gebaut, Daryna nutzt ihre UX-Fähigkeiten für Hilfsorganisationen und Luka schreibt ein Buch. Manche gründen eine Firma oder finanzieren sich eine Ausbildung, andere wagen einen Neuanfang. Ralph arbeitet mit einer Gemeinde an einem Prototypen für ein Zukunftsdorf, Sarah hat unter anderem ihren krankmachenden Job gekündigt. Jedes Vorhaben ist anders. Gemeinsam bei allen Projekten ist nur, dass sie alle die Verbesserung einer Situation angehen.

Welches Gremium entscheidet darüber, ob ein Vorhaben unterstützt wird oder nicht?

Silvan: Mitglieder können sich freiwillig als Prüferin oder Prüfer anmelden. Ihnen werden die Vorhaben anonymisiert zugespielt. Sie entscheiden darüber, ob ein Vorhaben den Kriterien von Ting entspricht oder nicht.

Wie verhindert Ihr, dass Ting nicht in Schwierigkeiten gerät, wenn Ende Monat Ebbe in der Kasse ist?

Ralph: Die ersten drei monatlichen Einzahlungen von allen Mitgliedern werden in ein Rücklagenkonto eingezahlt. Zusammen mit der Kündigungsfrist von drei Monaten können wir jederzeit garantieren, dass die bereits laufenden Weiterentwicklungen ausbezahlt werden können. Sollte also ein “Bank Run” geschehen, können wir die bereits versprochenen, aber noch nicht gestarteten Weiterentwicklungen on hold setzen und die laufenden Vorhaben noch fertig auszahlen, ohne finanzielles Risiko.
 

Menschen investieren mit Ting in sich selbst und in die anderen

Ein Missbrauchsrisiko ist vorhanden – was kehrt Ihr vor, damit sich das in Grenzen hält?

Ralph: Mit Aufklärung und einem guten Monitoring im System. Ganz vermeiden lässt sich Missbrauch nie, aber wir wollen ja mit Ting gerade aufzeigen, dass der Homo oeconomicus kein akkurates Modell für den Menschen ist, sondern dass Kooperation zu besseren Resultaten für alle führt, Stichwort Spieltheorie. Zusammen ist eben mehr für alle drin. Ting ist keine Profit-Maschine für Einzelne, sondern ein Umlageverfahren, das Menschen ermöglicht, eine Veränderung anzugehen, wenn sie nötig ist – und nicht dann, wenn das Geld vorhanden ist. Wir sind überzeugt, dass das die Mitglieder und die Gesellschaft im Allgemeinen weiterbringt.

Um Geld zu beziehen, muss ein Vorhaben intrinsisch motiviert sein, es soll sich positiv auf meine Biographie auswirken und es muss, neben gesetzeskonform und nicht diskriminierend, einen Mehrwert für die Gesellschaft enthalten. Wie genau definiert Ting den Mehrwert für die Gesellschaft?

Sasa: Die jetzige Definition liegt in der Schwarmintelligenz und der Vielfältigkeit der Community. Mitglieder, die Geld aus dem Gemeinschaftstopf beziehen möchten, dokumentieren vorab eigenverantwortlich. Danach dürfen alle Mitglieder, die wollen, anonym und digital mitentscheiden. Externe Ethiker sind ebenfalls eingebunden. Und zuletzt ist das Vertrauen sehr wichtig. Ting setzt darauf, dass auch fremde Menschen wissen, was gut ist.

Wie ist das Verhältnis von Zusagen versus Absagen?

Ralph: Bis Mai 2023 haben wir 70 Eingaben für eine Weiterentwicklung erhalten. Davon sind bis jetzt 7 Weiterentwicklungen von der Community abgelehnt worden, also 10 Prozent. Die Antragstellerinnen und Verfasser von abgelehnten Eingaben können aber jederzeit einen verbesserten Antrag stellen, wenn sie das wünschen. Auch hier gibt es Unterstützung von der Community.
 

Gemeinsam bei allen Projekten ist, dass sie alle die Verbesserung einer Situation angehen

Wie reagieren Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf eine Absage zu ihrem Vorhaben – Ärger, Schmollen oder gleich Kündigung?

Silvan: Ganz unterschiedlich. Manche sind so enttäuscht, dass sie Ting als Ganzes infrage stellen. Andere fragen, wie sie es besser hätten machen müssen. Wiederum andere merken, dass ihre Idee nicht gut genug ausgearbeitet war. Und einige ändern ihren Fokus und erarbeiten eine neue Eingabe. Allerdings, wie bereits erwähnt, 90 Prozent der Eingaben wurden bisher angenommen.

Heute habt Ihr knapp 500 Mitglieder und Ting verteilt pro Monat knapp 40‘000 Franken um – wie sehen diese Zahlen in 5 Jahren aus?

Ralph: Aktuell zahlen rund 450 Mitglieder jeden Monat rund 37’000 Franken in das Gemeinschaftskonto ein. Eine Prognose für die Zukunft ist sehr schwer zu machen, weil die wirtschaftliche wie auch die politische Lage sich momentan sehr rasch fundamental ändern kann, wie die Corona-, die Ukraine- oder die Klimakrise gezeigt haben. Geht unser Wachstum der letzten drei Jahre so weiter wie bisher, dann werden wir pro Jahr um gut 150 Mitglieder wachsen, also bei rund 1‘200 Mitgliedern landen. Das schätze ich momentan als realistisch ein. Aber eben, es könnten rasch auch mehr oder weniger werden.

Und wo soll Ting, jenseits von blossen Zahlen, ideell und gesellschaftlich positioniert sein in fünf Jahren?

Sasa: Wir wollen in der Mitte der Gesellschaft ankommen. Wer darüber nachdenkt ein Vorhaben umzusetzen, soll wissen, dass es dank Ting möglich ist. Wer selbst über genügend Geld verfügt, um eigene Ideen umzusetzen, unterstützt jene mit Ideen und Ambitionen, die aber über weniger finanzielle Ressourcen verfügen. Mit Ting haben wir eine Plattform geschaffen, die die Schweiz durch Umverteilung chancengerechter macht.

Ihr dürft einen Joker ziehen: Welche brennende Frage haben wir Euch nicht gestellt, auf welche Ihr die genau richtige Antwort geben möchtet?

Ting: Was ist vorhanden, ungleich verteilt und der potenteste Katalysator innovativer Menschen, die sich selbst und ihr Umfeld vorwärts bringen wollen?

Ein Rätsel – und die Lösung?

Ting: Zeit und Geld.


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