Digitalisierung: Defensive Strategien schaden dem Standort Schweiz

Protektionismus und defensive Strategien
Bild: erhui1979 | Getty Images

Kreativität und offensive Strategien bringen auf internationaler Ebene Pluspunkte. Wie kommt's, dass defensive Strategien und Protektionismus in der Schweiz Aufwind haben?

Dass Marktanteile mit Ideen, Kreativität, Technologien und Know-how zu gewinnen sind, ist eine Binsenwahrheit. Die Schweiz sowie zahlreiche Unternehmen und Institutionen wissen, wie das geht – und haben Erfolg. Auf dem nationalen wie auch auf dem internationalen Parkett.

Dass Globalisierung und Digitalisierung Chancen und Risiken bieten, ist ebenfalls eine Binsenwahrheit. Schweizer Unternehmen nutzen die Chancen und können in aller Regel mit den Risiken umgehen. 

Die Schweiz profitiert von offenen Märkten und hat wenig Grund, mit defensiven Strategien, kurzsichtigen Verboten und protektionistischen Massnahmen Sand ins Getriebe von Entwicklung und Innovation zu streuen. Wer das tut, wirft einen Bumerang, der den Weg zurückfinden und sehr unsanft ins eigene, empfindliche Genick krachen könnte.

Wer wirft denn einen Bumerang?

In letzter Zeit häuft sich die Zahl der Bumerangs. Geworfen von einzelnen Branchen, deren Lobbyisten sowie von Kommissionen und von der Politik. Ungesunde Defensiv-Pakete werden geschnürt, um Kreativität, Innovation und Leistung zu ersetzen durch Wettbewerbs-Einschränkungen, Verbote oder protektionistische Hürden. Zwei Beispiele der jüngeren Geschichte zur Illustration.

Kürzlich: Geldspielgesetz

Am 10. Juni 2018 hat die Schweiz über das Geldspielgesetz abgestimmt. Interessant ist das Vorfeld der Abstimmung. Waren Parlamentarier und Kommissionen längere Zeit mehrheitlich der Ansicht, dass Netzsperren kein taugliches Mittel wären, um unliebsame Konkurrenz fernzuhalten, hat sich diese Haltung mit dem Einsetzen der Lobbyarbeit der Casinos wundersam ins Gegenteil verdreht.

Schweizer haben also gefälligst bei Schweizer Casinos und nicht bei bösen ausländischen Casinos zu spielen. Weil Schweizer diese Entscheidung nicht selbst treffen können und weil sie zwingend vor latenter Spielsucht bewahrt werden müssen. Aha.

Wichtig zu wissen: Hardcore-Spieler mit Suchtproblemen können mit einem Mausklick die Netzsperre umgehen und werden weiterhin auf ausländischen Plattformen zocken. Experimentierfreudigen Konsumenten ohne Spielsucht, steht dieser Weg ebenfalls offen. 

Für die Spielsucht sind dann die Schweizer Casinos zuständig, welche Spieler laufend überwachen und ihre Kunden sofort hindern werden, wenn sie den Umsatz und den Gewinn der Casinos zu massiv erhöhen. Ach so.

Anmerkung: Ohne Schweizer Casinos zu nahe treten zu wollen, aber den Bock zum Gärtner zu machen, war noch nie eine besonders erfolgversprechende Idee.

Schweizer Casinos arbeiten kontrolliert und liefern vor allem laufend erhebliche Beträge in Form von Steuern an Bund und Kantone ab, welche AHV, Sport und Kultur zugute kommen.

Anmerkung: Gute Sache und das eigentliche Hauptargument, das sich oftmals hinter dem Spielsucht-Argument sehr klein gemacht hat.

Netzsperren sind das letzte Mittel, wenn's um Kriminalität und Verbrechen geht. Dann ist der Einsatz klar und gerechtfertigt. Dass Netzsperren neu für den Schutz einer bestimmten Branche eingesetzt werden sollen, setzt Fragezeichen. Zumal Netzsperren sehr leicht umgangen werden können. Geht es um ganz normale Konkurrenz und nicht um Kriminalität, gehören Netzsperren zu den protektionistischen Massnahmen, um den eigenen Garten oder eben eine Branche zu schützen.

Die Begehrlichkeiten anderer Branchen sind erwacht, die in Netzsperren ein taugliches Mittel erkennen, unliebsame Konkurrenz auf Distanz zu halten. Ausschluss statt Leistung, Innovation und Wettbewerb. Trotz Versprechen der Befürworter, keine weiteren Netzsperren im Auge zu haben – man darf gespannt sein, mit welchen Argumenten andere Branchen etwas nicht bekommen sollen, was der einen Branche mit dem Segen der Politik gewährt worden ist.

Randnotiz: Noch am Tag des Abstimmungssieges haben die Schweizer Casinos nachgelegt und mit einer zusätzlichen Forderung überrascht. Der Geldsegen in Form von Abgaben an Bund und Kantone soll für die nächsten vier Jahre halbiert werden. Grund: Starthilfe für die Casinos, um erfolgreich ins Internetgeschäft einsteigen zu können, die ausländische Konkurrenz hätte ja grossen Vorsprung. Sagt der Bund ja, werden Schweizer Stimmbürger indirekt auch noch zu passiven Casino-Startup-Investoren.

Aktuell: Replay TV

Zeitversetztes Fernsehen liegt im Zeitgeist und wird noch sehr viel stärker zunehmen. Wer Replay TV nutzt, überspielt meistens die Werbespots, dadurch reduzieren sich die Werbeeinnahmen der Sender. Das bringt SRG und Private dazu, Replay TV, angeboten von Providern, einen Riegel schieben zu wollen, mit der trotzigen Begründung: Zuschauer haben uns dann zu schauen, wenn wir senden, und wir verdonnern sie dazu, TV-Werbung zu erdulden, wegzappen ist eine Sünde. Bleiben die eigensinnigen Zuschauer renitent, dann müssen uns die Provider für die entgangenen Werbeeinnahmen entschädigen. Deshalb gehört die Hoheit über Replay TV in unsere Hand.

Die Fernmeldekommission des Nationalrats denkt keine Sekunde an Konsumenten und veränderte Gewohnheiten, beugt sich der lobbyistischen Keule, spielt beflissen mit, will TV-Sender schützen und spricht sich mit deutlichem Mehr gegen Replay TV aus. 

Noch unkreativer und kurzsichtiger geht fast nicht – ohne die Kristalkugel bemühen zu müssen, bei einem Verbot oder einer Einschränkung von Replay TV wird folgendes passieren: Zuschauer gucken TV-Werbung dann, wenn sie auffällt, unterhält oder klare Mehrwerte bietet. Flachwerbung oder lieblos produziertes Werbe-Gedöns wird gnadenlos übersprungen – auch dann, wenn die Spots TV-Sendern gutes Geld bringen sollen. Und TV schauen sie dann, wenn es ihnen gut in den Tagesablauf passt, zeitversetzt eben. Mit kreativen und offensiven Strategien könnten Wege gefunden werden, TV-Werbung, Finanzierung und veränderte Gewohnheiten der Zuschauen unter einen Hut zu bringen.

Die Abkürzung, TV-Konsumenten mit Zwang und Druck gängeln und zum TV-Verhalten von gestern zwingen zu wollen, kann nur als verzweifeltes und erfolgloses Stemmen gegen Digitalisierung und Zeitgeist interpretiert werden. Diese Schlacht ist verloren, bevor sie begonnen hat, weil Innovation gewinnen wird. Wenn nicht eigene, dann eben die der Konkurrenz. 

Aber immerhin, durch fehlende Innovation und Verbote kommt tatsächlich etwas in Bewegung: der Niedergang des klassischen Fernsehens wird sich beschleunigen. Hat man selber weder Ersatz, noch Plan, noch Konzept im Angebot, dann schickt man vergraulte Zuschauer schneller als erwartet zur Konkurrenz. Netflix, Youtube, Facebook und viele andere Grössen, welche Programme anbieten oder neu in Planung haben, werden sich über den Zuschauerzuwachs freuen und Blumen schicken.

Und den Providern ist es völlig egal, ob sie die Signale des sich selbst abschaffenden klassischen Fernsehens oder jene von Netflix und Co. übertragen, Hauptsache, Qualität und Tempo stimmen. Provider haben schon länger begriffen, was Konsumenten wollen, weil sie sehr nahe an ihren Kunden agieren. Einige TV-Sender tun sich da schwerer, sie verteidigen eine alte Welt, fordern alte Rechte ein und beweinen entgangene Erlöse, die mit den Rezepten von gestern für die Konsumenten von heute nicht kompensiert werden können.

Warum diese Beispiele?

Sie zeigen exemplarisch, dass wir die Herausforderungen der Zukunft zuweilen mit Rezepten der Vergangenheit beantworten. Die Liste der Beispiele könnte fortgesetzt werden. Wenn der Einkaufs-Tourismus ins grenznahe Ausland für den Schweizer Detailhandel bedrohliche Ausmasse annimmt, denken einige Parlamentarier und Branchenvertreter in die völlig falsche Richtung. Hochpreisinsel, Motive, Verhalten, Anreize oder Leistungsausbau sind weniger Thema, man zieht eine massive Reduktion der Zollfreigrenzen in Betracht, um Schweizer Konsumenten daran zu hindern, im Ausland einzukaufen. Das löst kein einziges Problem, das produziert nur verärgerte Konsumenten.

Liefern Alibaba und andere chinesische Anbieter immer mehr Waren in die Schweiz, gehen die Rezepte nicht in die Richtung, was wir in der Schweiz tun könnten und sollten, um an Attraktivität zu gewinnen. Ein Schweizer Grossverteiler schlägt ernsthaft vor, die Chinesen abzustrafen, deren Container nicht abzufertigen und gleich nach China zurückzuschicken, wenn Unregelmässigkeiten bei den Einfuhrpapieren auftauchen. Unregelmässigkeiten gehören geprüft und eventuelle Verstösse geahndet, keine Frage. Blinde Strafmassnahmen machen jedoch den Schweizer Markt und das eigene Angebot nicht besser. Amazon, Alibaba und wachsende Marktanteile anderer Anbieter gehören zu den Marktrealitäten. Und diese Realitäten lassen sich nicht durch "Schiffli- und Container-Versenken" aus der Welt schaffen.

Erfolg durch offensive Innovation oder Verhinderung durch Defensiv-Strategien?

Ob man jetzt Konsumenten gängeln und den guten alten TV-Konsum verordnen, Schweizer Casinos schützen oder chinesische Anbieter schon vor dem eigenen Schutzwall stoppen will, im Kern folgen diese defensiven Strategien derselben Idee. Oder präziser: derselben Nicht-Idee. In Ermangelung eigener Ideen, eigener Kreativtät und überraschender Innovationen, will man das Bestehende schützen, um das bisher Erreichte nicht zu verlieren. Das ist so verständlich wie hoffnungslos.

Innovation wird sich immer durchsetzen. Wenn nicht die eigene, dann eben die der Konkurrenz. Gegen Digitalisierung, neue Technologien und neue Möglichkeiten kann man sich nicht erfolgreich sperren, diese Schlacht ist nicht zu gewinnen. Aber man kann das eine wie das andere gestalten und deshalb mit Leistung überzeugen. Die Schweiz hat in Sachen Kreativität, Innovationsbereitschaft, Know-how und Ressourcen viel zu bieten und braucht Vergleiche nicht zu scheuen. 

Wie kommt's, dass wir in letzter Zeit, gedanklich und praktisch, vermehrt auf Verhinderung und Defensiv-Strategien setzen, ohne Not und einsichtigen Grund? Zu viele Lobbyisten? Zu beeinflussbare Parlamentarier? Wenig Ahnung oder zu diffuse Vorstellungen von Digitalisierung? Zu grosse Distanz zu Bevölkerung, Konsumenten, deren Wünschen und ihren Verhaltensweisen, die sich schneller ändern als auch schon? Zu wenig Mut, um jetzt notwendige Veränderungen zu erkennen, anzupacken, zu planen und zu realisieren?

Und wenn der Bumerang den Weg zurück zum Absender findet?

Was die Schweiz in Sachen Innovation oder auch in der Verhinderung von Innovationen treibt, setzt Signale, die weit über den Moment oder das einzelne Dossier hinausgehen. Es sind Puzzleteile, welche den Standort Schweiz attraktiv machen. Oder eben auch weniger attraktiv. Das schafft im einen wie im anderen Fall den Boden für die Zukunft. 

Zudem: Ersetzen wir immer wieder mal Innovation durch Protektion, Wettbewerb durch Verbote, kann das auch umgekehrt Schule machen. Halten wir uns durch Ausschluss oder hohe Hürden unliebsame Konkurrenz vom Leibe, so könnten auch wir irgendwann von bestimmten Märkten oder Bereichen ausgeschlossen werden. Das wäre dann der zurückkehrende Bumerang, der seine Absenderetikette gelesen hat und dem Werfer gnadenlos ins Genick knallt.

Der langen Schreibe kurzer Sinn: Protektionistische Massnahmen, Wettbewerbs-Hürden oder Gängelung von Konsumenten sind Defensiv-Strategien, die sich nur gerade Protagonisten mit stumpfen Waffen erlauben können, die aufgrund von akuten Schwächeanfällen, Ideen-Stau und Verzweiflung auf Notwehr plädieren dürfen. Also eine völlig andere Abteilung, um welche die Schweiz glücklicherweise einen grossen Bogen machen darf. Eine komfortable Situation mit Feldern und Spielräumen, die allerdings auch genutzt werden müssen.

Die Schweiz ist stark genug und verfügt über alle Ressourcen, um selbstbewusst zu agieren, um Konsumenten durch Leistung zu überzeugen und um Konkurrenten mit eigenen Innovationen in Schach zu halten. Wir leben in einer Zeit der wachsenden Herausforderungen, in der uns diese gute Ausgangslage zusätzliche Nutzen bringen kann.

Herausforderungen und Notwendigkeiten

Digitalisierung und Digitale Transformation sind nicht nur Schlagworte, sie beschreiben Entwicklungen und Veränderungen, eine Evolution, die heute und in Zukunft sehr viel stärker durchschlägt. Davor braucht sich niemand zu fürchten, aber die Herausforderungen sind erheblich, um eine digitale Zukunft zu gestalten, welche der Schweiz auf dem Boden einer starken Ausgangslage eine gute Position für die Zukunft sichert. 

Technologien, Märkte, Anbieter, Geschäftsmodelle, Konsumenten und Spielregeln verändern sich, teilweise sehr schnell. Mit den Rezepten der Vergangenheit wird eine Transformation nicht funktionieren. Eine Transformation, welche Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft einschliesst und Veränderungen, welche die Art, wie wir leben und arbeiten, stark beeinflussen wird.

Deshalb ist für alle Beteiligten, insbesondere für die Politik, eine tiefergehende Auseinandersetzung mit diesen Themen von zentraler Bedeutung. Wir stehen erst am Anfang. Die weiteren Schritte sind planbar und gestaltbar. Mit Erfolg allerdings nur dann, wenn ein breites Verständnis darüber vorhanden ist, warum was angepackt, geplant und gestaltet werden soll.