Energiewende

Solar-Streit im Böztal – Gemeinderat steht im Gegenwind seiner Bürgerinnen und Bürger

Wohnhaus mit Photovoltaik-Panels auf dem Dach
Bild: querbeet

Der Appell «Jede Kilowattstunde zählt», forciert von Bund, Kantonen und zahlreichen Initiativen, ist noch nicht in allen Gemeinden angekommen.

Die Gemeinde Böztal ist als Fusion von vier Dörfern im oberen Fricktal entstanden – eine grossartige Region mit interessanten Menschen, malerischer Landschaft, wenig Nebel und viel Sonne. Beste Voraussetzungen, um einen wichtigen Beitrag zur Energiewende zu leisten. Zumal auch die Schweiz auf eine drohende Strommangellage zusteuert, die mit erneuerbarer Sonnenenergie und mit viel Eigeninitiative (auch) im Böztal abgewendet werden kann. 

«Das Potenzial ist riesig»: Gemeinde Böztal will mehr Solaranlagen im Dorf

Mit dieser Headline begleitete die Aargauer Zeitung vor einigen Wochen eine Info-Veranstaltung für die Böztaler Bevölkerung zu den Möglichkeiten der Solarenergie . Der Anlass "Solar warum?", organisiert vom Gründer der Initiative "Gratis-Energie vom eigenen Dach" Hanspeter Joss und von Ferdi Kaiser, hat offensichtlich breite Teile der Bevölkerung angesprochen, der Gemeindesaal war proppenvoll.

Der Gemeinderat Böztal war Teil des Info-Events und unterstützt auch explizit die laufende Solar-Offensive. Gemeindeamman Robert Schmid sieht Handlungsbedarf, unterstreicht, dass «wir auch die nötigen Technologien haben, um zu handeln», ist der Meinung, dass «jeder seinen Beitrag leisten» könne und appeliert an seine Bürgerinnen und Bürger:

Eine Photovoltaik-Anlage ist eine unkomplizierte Möglichkeit, um etwas zu tun

Das klingt gut und plausibel, zumal das Böztal mit seinen rund 800 Hausdächern, die geschätzte Hälfe davon mit perfekter Südausrichtung, genügend Dachflächen bietet, um das Böztal mit selbstproduziertem, sauberem und billigem Strom zu versorgen. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Studie des Bundes: in der Gemeinde Böztal könnten rund 33 Millionen Kilowattstunden Strom pro Jahr produziert werden, der aktuelle Verbrauch der Gemeinde liegt aktuell bei weniger als der Hälfte.

Das bedeutet als erstrebenswerte Vision: ziehen genügend motivierte Einwohnerinnen und Einwohner am selben Strick und stellen eine Photovoltaik-Anlage auf ihr Haus, kann sich das Böztal als Pionier-Region autonom mit Strom versorgen.

Was, wenn die Bürgerinnen und Bürger der motivierenden Aufforderung ihres Gemeinderates folgen?

Der Slogan «Böztal geht voran» war geboren, die Botschaft und der Appell des Gemeinderates ist bei der Bevölkerung auf einen fruchtbaren Boden gefallen. Die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner, die eine Photovoltaik-Anlage ins Auge fassen, ist sprunghaft gestiegen, abzulesen auch an den konkreten Baugesuchen, die bei der Gemeinde eingereicht wurden.

Für einen beträchtlichen Teil der investitionsbereiten Anlagenbauer im Böztal endete die neu entfachte Euphorie und die Bereitschaft zur Eigeninitiative dann allerdings mit einer unerwarteten Wende. Nicht die angestrebte Energiewende, in gewisser Weise das Gegenteil.

Der Gemeinderat ändert die Praxis und bremst seine Solar-Initiative aus

Nur gerade zwei Wochen nach der frisch lancierten «Böztal geht voran»-Initiative änderte der Gemeinderat seine bisherige Bewilligungs-Praxis – mit drastischen Auswirkungen. In Effingen, einem der Dörfer der Gemeinde Böztal, wurden Photovoltaik-Anlagen in der Dorfkernzone jahrelang ohne Einschränkungen bewilligt und auch gebaut. Diese Praxis hat der Gemeinderat mit einem schlichten Merkblatt, publiziert auf der Website der Gemeinde, gewissermassen über Nacht gekippt und revidiert.

Die bisher erlaubten Aufdach-Photovoltaik-Anlagen (aufgesetzt auf bestehende Dächer) sind nun in Dorfkernzonen nicht mehr zulässig, bewilligt werden nur noch Indach-Photovoltaik-Anlagen (in die Dachhaut integriert). Diese sollen zudem in ihrer Grösse teilweise beschränkt werden. Mit dieser Massnahme soll das Dorfbild geschützt werden, Photovoltaik-Anlagen sollen sich visuell möglichst zurückhaltend ins Dorfbild einfügen.

Um es vorwegzunehmen: Photovoltaik-Anlagen sind immer als solche erkennbar, ob sie auf dem Dach aufliegen oder ins Dach integriert werden. Zudem unterscheiden sich moderne Aufdach-Anlagen heute nur noch marginal von Indach-Versionen, je nach Perspektive ist der Unterschied kaum zu sehen. Der Zwang zu Indach-Anlagen bedeutet jedoch in der Regel das Aus für ein Solar-Projekt bei bestehenden Gebäuden.

Dorfkernzonen – eine vernachlässigbare Grösse?

Dorfkernzonen in Dörfern bestehen in der Regel nicht nur aus ein paar Häusern, je nach Dorf und Grösse liegen oftmals 25 bis 30 Prozent der besiedelten Fläche in dieser Zone. Weil der Dorfkern besonders dicht bebaut ist, sind meistens sehr viele Liegenschaften und ihre Dächer von dieser neuen Regelung betroffen. 

Aufdach- oder Indach-Anlagen – gehupft wie gesprungen?

Bei Neubauten sind in die Dachhülle integrierte Indach-Anlagen eine bedenkenswerte Alternative, weil sie architektonisch mit dem gesamten Gebäudekonzept geplant werden können. Das kann zu ansprechenden Lösungen führen, die bei bestehenden Bauten nicht erreicht werden.

Für bestehenden Gebäude, und um diese geht es zu 99 Prozent in längst bebauten Dorfkernzonen, sind Indach-Photovoltaik-Anlagen schlicht keine Alternative, aus mehreren Gründen:

Kosten: Indach-Anlagen verursachen bei bestehenden Gebäuden Mehrkosten zwischen 30 und 100 Prozent. Bei den uns bekannten und vorderhand verhinderten Projekten liegen die Mehrkosten bei rund 70 Prozent. Keine der investitionswilligen Parteien würde in Anbetracht dieser nicht mehr bezahlbaren Grössenordnungen ihr Projekt weiterverfolgen. 

Wirkungsgrad und Effizienz: Indach-Anlagen bringen aufgrund der mangelnden Hinterlüftung rund 20 Prozent weniger Leistung.

Nachhaltigkeit: Die Installation einer Indach-Anlage bedingt, dass bei bestehenden intakten Hausdächern sämtliche ebenso intakten Dachziegel abgeräumt und entsorgt werden müssen. Das ist unter dem Gebot der Nachhaltigkeit heute schlicht nicht mehr vertretbar.

Warum macht ein Gremium die selbst formulierte «unkomplizerte Möglichkeit, um etwas zu tun» plötzlich zur komplizierten Unmöglichkeit?

Unverständlich und schwer nachvollziehbar, warum ein Gemeinderat eine jahrelang gepflegte Praxis im denkbar schlechtesten Moment kippt und die Voraussetzungen für neue Anlagen verschärft und dadurch weitgehend verunmöglicht. Ausgerechnet in Zeiten einer Energiekrise und einer drohenden Strommangellage mit möglicherweise drastischen Auswirkungen auf Private, auf das Gewerbe und auf die Wirtschaft.

Diese Schubumkehr hat zur Folge, dass im Moment mehrere nicht bewilligte Projekte im Böztal blockiert sind. Und, noch schlimmer, zahlreiche investitionswillige Anlagenbauer in den Dörfern Bözen, Effingen, Elfingen und Hornussen haben ihre geplanten Projekte vorderhand auf Eis gelegt und reichen keine Bewilligung ein. Auch sie sind überrascht von der Diskrepanz zwischen den aufmunternden Appellen unter dem Slogan «Böztal geht voran» und der nun neu gepflegten Praxis, die ihre Photovoltaik-Anlagen in der Dorfkernzone nicht zulassen will.

Die Energieverluste durch momentan ausgebremste Anlagen sind kein Klacks: Allein die uns bekannten Projekte mit den drei Anlagen in Effingen würden zusammen 71’375 Kilowattstunden Strom liefern – dringend benötigter Strom und Energie, um eine mögliche Strommangellage zu verhindern oder abzumildern, die der Schweiz, dem Kanton und insbesondere der Gemeinde Böztal diesen Winter nun nicht zur Verfügung stehen werden.

Gemeindepolitik – oder ein Thema von nationaler Bedeutung?

Beides. Die Verfasser der im Böztal ausgebremsten Projekte legen beim Kanton Beschwerde ein. Aber unabhängig vom Ausgang des Verfahrens bleibt das Problem ungelöst und hat grössere Dimensionen, die weit über die Frustration einzelner Projektverfasser hinausgehen.

Zum einen, weil die uns bekannten Anlagenbauer ihre Projekte so dimensioniert haben, dass nicht nur sie selbst Gratisstrom vom eigenen Dach nutzen können, ein beträchtlicher Teil wird ins Stromnetz eingespeist und steht damit auch anderen Strombezügern im Böztal zur Verfügung. Ein nicht unwesentlicher Aspekt der Solidarität, dem zahlreiche private Projektverfasser folgen, die über das eigene Hausdach hinausdenken. Sollte die befürchtete Strommangellage Realität werden, produzieren die einen auch für die anderen Strom, damit möglichst nirgends die Lichter ausgehen.

Ist der Appell von Bund und Kantonen, «Jede Kilowattstunde zählt», wirklich ernst gemeint, sollten auch alle Gemeinden am gleichen Strick ziehen. Im Moment definiert jede der 2'148 Gemeinden in der Schweiz ihre eigene Rezeptur, wie mit Photovoltaik-Anlagen in Dorfkernzonen umzugehen ist. Fahren einige Gemeinden einen restriktiven Kurs, operieren andere sehr offen und fortschrittlich und lassen genau das zu, was die Nachbargemeinde verbieten will: Aufdach-Anlagen in Dorfkernzonen.

Gemeindeautonomie ist etwas Gutes und hat viele Vorteile. In Anbetracht nationaler Krisen und drohender Stromlücken sollte jedoch keine Gemeinde das Potenzial ihrer möglichen Solarstrom-Produktion selbst begrenzen und sich darauf verlassen, dass andere einspringen, wenn der Strom knapp wird.

Höchste Zeit für Bund und Kantone, klare Empfehlungen und Richtlinien aufzustellen, die Gemeinden helfen, die notwendigen und richtigen Entscheidungen zu treffen. Solche Richtlinien brauchen jedoch weder vom Gemeinderat Böztal noch von anderen Gemeinden abgewartet zu werden. Wer die Zeichen der Zeit erkennt und auf seine Bürgerinnen und Bürger hört, findet schon vorher zu liberalen Regelungen, die zur Versorgungssicherheit der eigenen Gemeinde, des Kantons und der ganzen Schweiz beitragen. Pioniere, die unter der Flagge «Böztal geht voran» und ähnlichen Slogans segeln, die brauchen keine Anweisungen von oben – sie kennen die Wege und gehen mutig und eigenverantwortlich voran.

Offenlegung aus Gründen der Transparenz

Der Autor dieses Artikels ist erstaunter und involvierter Teil des "Solar-Streits im Böztal" – er gehört zu den vorderhand ausgebremsten Anlagenbauern. Er ist involviert, ohne zu streiten, setzt sich jedoch vehement für eine liberale und fortschrittliche Energie- und Solar-Politik ein. Weil er die Haltung vertritt, dass Versäumnisse der Vergangenheit und auch der Gegenwart zur aktuellen Energiekrise geführt und eine wirkungsvolle Energiewende bisher verhindert oder verzögert haben. Zudem ist er überzeugt davon, dass formulierte Bekenntnisse aus allen möglichen Richtungen, was wir alles möchten, sollten, müssten und auch würden, wenn..., nur dann Wirkung zeigen, wenn wir es einfach tun und machen. Jetzt. Solange noch Zeit ist, etwas in Gang zu bringen.

Bisher erschienene Medienberichte zum Thema

Die Zahl der Bürgerinnen und Bürger im Böztal wächst, die mit den vom Gemeinderat neu aufgestellten Hürden auf dem Weg zur eigenen Photovoltaik-Anlage nicht einverstanden sind. Der Solar-Streit ruft auch Journalistinnen und Journalisten auf den Plan, die mit ihren Recherchen und nach Gesprächen mit allen involvierten Parteien ein aktuelles Bild der Situation im Böztal zeichnen. Die Links zu den bisher publizierten Artikeln gleich unten (teilweise Paywall).