Ein Kommentar aus aktuellem Anlass

Dubler-Mohrenköpfe: Warum Kämpfe auf Nebenschauplätzen und Stellvertreter-Diskussionen dem Kernthema schaden und Lösungen verhindern können

Mohrenköpfe von Dubler Waltenschweil
Bild: Dubler, Waltenschwil

Die Diskussionen über Robert Dublers Schokoladen-Produkte lenken vom eigentlichen Problem ab und verlagern das Engagement vom Haupt- auf Nebenschauplätze.

Dieser Aufsatz ist eigentlich kein Artikel zur "Mohrenkopf-Affäre" und auch kein Kommentar zur Rassismus-Problematik. Zumindest nicht ausschliesslich. Der Autor ist in den letzten Tagen im Zusammenhang mit den aktuellen Ereignissen, einmal mehr, zur Einsicht gelangt, wie sich Probleme nicht lösen lassen. Und weil er die Meinung vertritt, dass wir als Gesellschaft sehr viele Probleme zu lösen haben, eine übergeordnete Betrachtung zum Thema, wie das zu schaffen wäre. Oder wie eben nicht.

Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem

Latenter oder offensiver Rassismus sowie menschenverachtende Haltungen und Handlungen sind unhaltbare Zustände, welche erkannt, verstanden, diskutiert und abgebaut gehören – unabhängig davon, in welchem Land und in welcher Stärke sie stattfinden und auf welche Bevölkerungsgruppe sie zielen.

"Abgebaut" und nicht "beseitigt" deshalb, weil jede Form von Rassismus als gesellschaftliches Problem verstanden werden muss und deshalb nicht per Dekret beseitigt werden kann. Letzteres, wäre es denn machbar, ginge schnell – das funktioniert allerdings bestenfalls gerade noch bei offensiven Handlungen, die sanktioniert werden können. Auch diese offensiven Handlungen haben ihre Wurzeln jedoch in Aversionen und Haltung, welche zu Grenzüberschreitungen führen. Und Haltung gehört zur Einstellungsskala von Einzelnen, von Gruppen oder auch von ganzen Gesellschaften.

Deshalb ist Rassismus ein gesellschaftliches Problem, das "von unten nach" oben gelöst werden muss. Anweisungen und Verbote von oben nach unten verpuffen weitgehend wirkungslos, weil sie nicht imstande sind, Haltungen zu verändern. Die brutale Tötung des Afroamerikaners George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis hat weltweit Empörung, Proteste und eine breite Debatte ausgelöst, die engagiert geführt wird. Richtigerweise innerhalb der globalen Gesellschaft(en), weil nur Menschen im Dialog in der Lage sind, tiefwurzelnde Missstände anzugehen und nachhaltig zu verändern.

Ist die Schokoladenbezeichnung "Mohrenkopf" rassistisch konnotiert?

Eine Twitter-Nutzerin meinte ja – sie hat am 8. Juni 2020 mit einem Tweet die Migros aufgefordert, die Dubler-Mohrenköpfe aus dem Sortiment zu entfernen. Mit ihrem Tweet hat die Userin eine gewaltige Welle von Reaktionen losgetreten, in alle denkbaren Richtungen. Der Tweet an die Migros adressiert:

Der Grossverteiler Migros hat kurz darauf reagiert, offensichtlich um Rassismusvorwürfen aus dem Weg zu gehen. Die Dubler-Mohrenköpfe sind am 10. Juni 2020 aus dem Sortiment genommen worden. Die Begründung der Migros, adressiert an die Twitter-Nutzerin, die sich zu diesem Zeitpunkt @MereSirrTeh genannt hat:

Die Migros hat Recht behalten mit ihrer Vermutung, dass "dieser Entscheid ebenfalls zu Diskussionen führen wird". In zahlreichen Pros und Kontras ist der Entscheid von einem beträchtlichen Teil der Diskussionsteilnehmer mit unterschiedlichen Argumenten infrage gestellt worden, auf Twitter hier nachzulesen.

Die Entscheidung der Migros hat sich zur "Mohrenkopf-Affäre" ausgeweitet – keine Zeitung, keine Online-Plattform, kein TV-Format, dass diese Affäre nicht thematisiert hätte und damit die Diskussion breit in die Schweizer Bevölkerung getragen hat.

Was der Rassismus-Debatte schadet:
Die Verlagerung der Diskussion auf Nebenschauplätze mit Seitenausgang

Bei jedem Thema, auch bei zentralen und wichtigen Themen, muss man sich fragen: Wie viel Bereitschaft und Aufmerksamkeit ist innerhalb einer Gesellschaft vorhanden, um ein Thema breit, tief und bis zu möglichen Lösungen zu diskutieren? Vergangenheit und Erfahrung zeigen, dass die mögliche Aufmerksamkeitsspanne nicht strapaziert werden darf, sonst verliert man seine Gesprächspartner.

Diskutiert nun seit Tagen eine Bevölkerung über das medial breit ausgewalzte Nebenthema der Dubler-Mohrenköpfe, läuft dadurch das eigentliche und wirklich wichtige Thema Gefahr, ausser Sichtweite zu geraten. Und ist die "Mohrenkopf-Affäre" nach einigen Tagen zu Ende, ist es die wesentlich wichtigere Diskussion zu grundsätzlichen Aspekten zum Thema Rassismus möglichweise auch. Einfach weil die Bevölkerung genug hat, die Aufmerksamkeitsspanne abgelaufen ist und neue Ereignisse in den Vordergrund rücken.

Dazu kommt, dass die Meinungen in der Mohrenkopf-Diskussion offenbar leichter, schneller und eindeutiger gemacht sind, im Vergleich zu Fragen im Zusammenhang mit realem Rassismus. "Hat die Migros richtig reagiert?", fragte CH Media letzte Woche in einer Live-Umfrage. Von 4'943 Online-Teilnehmern gaben 87 Prozent an: "Nein, «Mohrenköpfe» haben nichts mit Rassismus zu tun". Ein ähnliches Ergebnis bei der TED-Umfrage von Tele Züri – "Finden Sie die Dubler-"Mohrenköpfe" rassistisch?: 5 Prozent Ja, 95 Prozent Nein.

Zahlreiche Voten zeigen, dass ein grosser Teil der Bevölkerung den Begriff "Mohrenkopf" in keiner Weise mit dunkelhäutigen Menschen assoziiert, sondern traditionellerweise ausschliesslich mit Schokolade. Selbstverständlich darf das Thema diskutiert werden. Nur scheint ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung diese Diskussion nicht wirklich zu verstehen und ist auch nicht bereit, diesen Argumenten folgen zu wollen – ergo steigen viele Menschen aus. Im schlechtesten Fall sind sie dann für die gesamte Diskussion verloren. 

Grundsätzlich lässt sich beobachten: Sind Diskussions-Teilnehmer, auch engagierte, durch Stellvertreter-Diskussionen ermüdet, sinkt die Bereitschaft oftmals, zum eigentlichen Kernthema zurückzukehren. Man hat das Gefühl, seine Schuldigkeit getan und dem Thema nun genügend Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Sollte dieser Effekt auch im aktuellen Fall eintreten, hat der Kampf auf dem Nebenschauplatz der Dubler-Mohrenköpfe der tatsächlich dringend notwendigen Diskussion über Rassismus ein (zu) grosses Stück der ebenfalls notwendigen Aufmerksamkeit genommen.

Was der Diskussions-Bereitschaft schadet:
Wer anders denkt, wird beleidigt, niedergeschrien und ausgegrenzt

Der Account der Twitter-Userin @MereSirrTeh, welche die Welle der "Mohrenkopf-Affäre" losgetreten hat, ist inzwischen inaktiv. Als er noch aktiv war, hat die Userin ein exemplarisches Beispiel dafür geliefert, wie Diskussionskultur nicht funktionieren kann. 

Sie hat in einem Tweet ihre Meinung geäussert und an die Migros eine Forderung gestellt. Das hat sie in sachlicher Form gemacht und damit ihre Meinung als deklarierte "Anti-Rassistin" zur Diskussion gestellt. Im Kern eine gute Sache. Ihre gute Absicht hat sie in weiteren Tweets allerdings nicht nur infrage gestellt, sie hat sich als fundamentalistische Kämpferin für "die gute Sache" selbst ins Unrecht gesetzt und das praktiziert, was sie selbst an den Pranger stellt. Damit hat sie ihre eigene Intention torpediert, vor allem jedoch der allgemeinen Bereitschaft zur Diskussion zum Thema Rassismus extrem geschadet.

Zwei Beispiele aus dem beunruhigenden Katalog der Argumente:

Steuert ein Twitter-Nutzer seine Meinung zum Thema bei, die der Betrachtung von @MereSirrTeh zuwiderläuft, begrenzt die fundamentalistische Kämpferin gegen Rassismus die Lebenszeit des unliebsamen Diskussionsteilnehmers, legt selbst eine (Alters-) rassistische Haltung an den Tag und empfiehlt dem User, abzudanken. 

Ein User, der das Thema "Mohrenkopf" als diskussionswürdig erachtet, wenn's stört, selbst aber nur an Schokolade denkt im Zusammenhang mit dem Begriff, wird niedergeschrien. Seine Meinung ist "irrelevant", weil er nicht punktgenau die eigene spiegelt und @MereSirrTeh beschimpft den User als "ignoranten Rassisten".

Ohne offene Gesprächs- und Diskussionskultur läuft gar nichts

Bei diesen Ausführungen geht's nicht darum, einer anonymen Twitter-Schreiberin den Spiegel vorzuhalten, das hat sie bereits selbst gemacht. Es geht um das zentral wichtige Moment einer guten und offenen Gesprächs- und Diskussionskultur. Dazu gehört selbstverständlich, dass Menschen ihre Meinung sagen dürfen und sagen sollen – ohne Angst, niedergeschrien, beleidigt oder ausgegrenzt zu werden. 

Diese Angst oder diese Maulkörbe schaffen ein Klima, in dem nur noch die Bestätigung der eigenen Meinung genehm ist, alles andere wird niedergemacht. Wer das fürchten muss, wird seine Meinung nicht mehr äussern, am Meinungsbildungsprozess nicht teilnehmen und seine Haltung, egal zu was, auch nicht ändern. Kein Boden, auf dem wirkliche Diskussionen und tragfähige Lösungen möglich werden, welche Länder, Gesellschaften und die ganze Welt weiterbringen sollen.

Wie lassen sich die wirklich relevanten Probleme lösen?

Aktuell bewegt sich unsere Welt gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich durch schwierige Gewässer und die Unsicherheiten nehmen zu. Zahlreiche Probleme stehen an, die bewältigt werden müssen. Latenter und offensiver Rassismus gehören sicher dazu.

Bei Dubler-Mohrenköpfen würde ich in Bezug auf die Priorität ein Fragezeichen setzen. Auch dann, wenn im Zuge der "Mohrenkopf-Affäre" das Café Mohrenkopf im Zürcher Niederdorf seinen Namen ändern will oder die Gemeinde Möriken-Wildegg mit ihrem Gemeindewappen in die Schusslinie geraten wird. Das sind Nebenschauplätze, die man natürlich diskutieren darf, die jedoch in ihrer Dimension nicht die Kraft haben, am tatsächlichen Problem des Rassismus etwas zu ändern.

Deshalb, die wirklich grossen Probleme zuerst. Und nochmals, Rassismus gehört zweifellos dazu, Schokoladenerzeugnisse mit eigenartigen Namen im Moment eher nicht. Später vielleicht schon, wenn wir die wirklichen Brandherde erkannt und gelöscht haben.

Wie sich diese wirklichen Probleme nicht lösen lassen, zeigt exemplarisch die aufgebauschte "Mohrenkopf-Affäre" – und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Vordringliche Probleme, die Flächenbrände auslösen können, haben Priorität. Rassismus als gesellschaftliches Problem löst immer wieder Flächenbrände aus. Andere Themen mit Gewicht und spürbarer Brisanz ebenfalls. Diese Themen gehören von der Politik traktandiert und von der Gesellschaft breit diskutiert.

Ohne ein vertieftes Verständnis für Fakten, Historie, Wirkung und Ursache sowie für Recht und Gerechtigkeit, werden sich die meisten Probleme nicht lösen lassen, sie bleiben im halbherzigen Bemühen stecken und produzieren letztlich nur Absichtserklärungen und Worthülsen. Beispiele dafür hat unsere Politik, haben wir als Gesellschaft in den letzten Jahren zuhauf geliefert. Möglicherweise werden in den nächsten Jahren die Spielräume in einigen Bereichen enger – sollten wir den Modus und die Spielregeln ändern und uns darauf verlegen, vermehrt Lösungen und Resultate zu schaffen?

Jede Gesellschaft, auch unsere in der Schweiz, ist empfänglich für einleuchtende Argumente und auch bereit für die Diskussion. Immer vorausgesetzt, diese Diskussion wird offen, fair und ehrlich geführt und verschiedene Meinungen sind erlaubt. Wer niedergeschrien und in eine Ecke gestellt wird, ist für die weitere Diskussion und damit auch für die Findung tragfähiger Lösungen verloren. Nebenschauplätze bleiben gefährlich, Stellvertreter-Diskussionen sind ermüdend und lenken vom wirklich Wesentlichen ab. Wir sollten uns um Klarheit, Offenheit und vor allem um eine wirklich gute Diskussionskultur bemühen, die alle Teile der Gesellschaft mit einbezieht. 

Gelingt uns das, werden wir als Gesellschaft sehr viel bewirken können in den nächsten Jahren. Setzen wir die falschen Gewichte oder nehmen wir Gesprächspartner mit anderen Meinungen nicht ernst, werden wir in zehn Jahren über dieselben ungelösten Probleme diskutieren, die uns heute und auch die letzten Jahre und Jahrzehnte schon beschäftigt haben. Mit dem einzigen Unterschied, dass diese Probleme dann noch grösser und in ihren Auswirkungen für uns alle spürbarer sein werden.