FinTech & InsurTech

Corporate Startups für die agile Entwicklung neuer Produkte

Startup im Office
Bild: Anchiy | Getty Images

Andreas Iten mit einem Bericht aus der Praxis zu Corporate Startups, welche Geschäftsideen fassbar machen und neuen Geschäftsmodellen ein Gesicht geben.

Seit rund drei Jahren kümmern wir uns bei F10 darum, wie man FinTech Startups mit Banken und Versicherungen zusammenbringt, mit dem Ziel: die Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen zu fördern und bedeutend schneller zu machen.

Eric Salzmann hat kürzlich in seinem bemerkenswerten Gastbeitrag in MoneyToday.ch sehr treffend über agile Setups zur Entwicklung neuer Produkte im Bankenumfeld geschrieben. Erics Gedanken haben mich inspiriert, einen Beitrag über meine Erfahrungen in diesem Umfeld zu verfassen.

Aktuelle Herausforderungen

Die Herausforderungen jeder Bank und jeder Versicherung liegen in der Geschwindigkeit der Veränderungen am Markt und in der rasanten Entwicklung der Technologie. Viele Unternehmen sind mit ihren Organisations-Strukturen, Prozessen, IT-Architekturen sowie der auf Sicherheit und Risikominimierung ausgelegten Kultur in der Praxis nicht mehr in der Lage, neuartige und kundenzentrierte Dienstleistungen und Produkte in einem iterativen Verfahren auf den Markt zu bringen. 

Unterschiedliche Betrachtungen und Lösungsansätze

Im Gespräch mit Entscheidungsträgern bei Banken und Versicherungen zeigt sich, dass man sich diesem Problem durchaus bewusst ist. Wenn es jedoch um mögliche Lösungen geht, sind die Meinungen nicht mehr homogen. Einige denken, dass eine Digitale Transformation des gesamten Unternehmens die Agilität wiederherstellt. Andere setzten auf die rigorose Digitalisierung bestehender Prozesse und Produkte, damit Änderungen schneller und effizienter umgesetzt werden können.
Eine dritte Gruppe glaubt, dass die Branche schlichtweg nicht die Zeit hat, nur eine organische Transformation der Unternehmung zu vollziehen. Vielmehr sollen neue Produkte und sogar komplette Geschäftsmodelle extern und ausserhalb der eigenen Strukturen gebaut werden, damit das eigentliche Kerngeschäft möglichst unangetastet bleibt.

Patentrezepte gibt es nicht

Aus meiner Sicht ist die Sache nicht einfach schwarz-weiss und es gibt kein Patentrezept, um alle Herausforderungen mit einer einzigen Initiative zu meistern. Das eine tun und das andere nicht lassen, heisst die Devise. Die Branche braucht Digitalisierung und Transformation, vor allem in der Firmenkultur, der IT und im Produkt-Management. Diese Veränderungsprojekte führen zu mehr Agilität in der gesamten Unternehmung, allerdings: sie dauern Jahre und führen zu einem sehr hohen Selbstbeschäftigungsgrad. Dabei kommt meist der Endkunde zu kurz, weil alle oder viele Kräfte nach innen fokussiert sind.

Wie können nun aber grössere Unternehmen trotz diesen Rahmenbedingungen neue und vor allem kundenzentrierte Produkte, Geschäftsideen oder Dienstleistungen an den Markt bringen?

Startups haben Vorteile, aber auch ein Problem

Werfen wir darum einen Blick auf Startups (Jungunternehmen ohne ein bereits nachhaltiges Geschäftsmodell und meist fremdfinanziert). Sie sind bekannt dafür, schnell, ohne Risikoaversion und meist von einem Kundenproblem ausgehend, neue Produkte zu entwickeln. Startups haben gegenüber etablierten Unternehmen wie zum Beispiel Banken und Versicherungen einen grossen Vorteil. Sie haben keine Legacy, also nichts, das man transformieren oder digitalisieren muss, deshalb können sie sich ausschliesslich auf das Neue fokussieren. Im Idealfall läuft das sehr kundenorientiert. Das Startup kann zuerst analysieren, welchen Nutzen es für den potenziellen Kunden generieren kann, überprüft Annahmen dauernd über Befragungen, Prototypen und Tests und passt sowohl das Produkt wie auch das Geschäftsmodell während der Entwicklungsphase laufend an. 

Ein weiterer Vorteil liegt im Technologie-Know-how, welches meist junge Gründer direkt von den technischen Hochschulen in diese Jungfirmen einbringen. Startups haben jedoch auch ein grosses Problem: ihnen fehlen die Kunden. In der Banken- und Versicherungsbranche, wo Vertrauen eine sehr grosse Rolle spielt, haben Startups mit ihrem "Brand" einen schweren Stand.

Symbiose von etablierten Unternehmen und Startups?

Es liegt nun auf der Hand, dass man versucht, die zwei Welten der Startups und der etablierten Firmen zu kombinieren, um die Vorteile beider Welten zu vereinen. Stabilität, Vertrauen, grosser Kundenstamm der Banken und Versicherungen zusammen mit der Kundenorientierung, Schnelligkeit und Technologie-Innovation der Startups würde das Problem beider Seiten lösen. 

Eine nicht ganz neue Idee, welche zurzeit nicht nur in der Finanzbranche als Wunderwaffe für die Lösung der Herausforderung der Digitalisierung gehypt wird. Viele Banken und Versicherungen schmücken sich darum mit Startups und veranstalten aus meiner Sicht ein ziemliches Innovations-Theater. 

Startups auf der anderen Seite haben gar keine Motivation mehr, ein eigenständiges Geschäft aufzubauen, sie suchen bereits in einer sehr frühen Phase den Exit bei einer Bank oder Versicherung.

Voraussetzungen für möglichen Erfolg

Eine enge Zusammenarbeit zwischen etablierten Unternehmen und Startups funktioniert aus eigener Erfahrung nur dann gewinnbringend, wenn gewisse Voraussetzungen gegeben sind. In kurzer Zusammenfassung die folgenden:

  1. Beide Parteien müssen sich auf Augenhöhe befinden und die Zielsetzungen müssen für beide übereinstimmen
  2. Verträge müssen für das Startup erträglich sein (ein 40-seitiger Vertrag mit Haftungsklauseln, welche den Unternehmenswert um ein Mehrfaches übersteigen, wird nicht funktionieren)
  3. Die Geschäftsmodelle des Unternehmens und des Startups müssen kompatibel sein und es im Laufe der Zusammenarbeit auch bleiben.
  4. Risikokapital-Investitionen (Minderheitsbeteiligungen) in das Startup sind von Partnerschaften/Kooperationen zu trennen, so dass ein Startup frei auf dem Markt agieren und wachsen kann
  5. Auf Seite des Unternehmens müssen die notwendigen technischen und organisatorischen Voraussetzungen für die Zusammenarbeit vorhanden sein oder geschaffen werden

Alternativen gibt’s auch

Überprüft man das Vorhandensein dieser Voraussetzungen, stellt man fest, dass sich die Anzahl der Anwendungsfälle schnell reduziert. Es stellt sich deshalb für Unternehmen die Frage, wie man auf anderen Wegen konkreten Nutzen aus Startups ziehen kann. Grundsätzlich bestehen zwei weitere Lösungsansätze, falls die genannten Voraussetzungen nicht erfüllt werden können. 

Zum einen: Man investiert in das Startup, ohne eine enge Zusammenarbeit anzustreben und versucht, dem Jungunternehmen die im eigenen Hause vorhandenen Assets als Multiplikator zur Verfügung zu stellen. Diese Vorgehensweise ist vor allem bei disruptiven Geschäftsmodellen sinnvoll, bedingt aber eine Corporate Venturing Organisation, Risikokapital und eine entsprechende Governance.

Corporate Startups

Eine zweite Möglichkeit liegt darin, sogenannte Corporate Startups zu schaffen. Corporate Startups sind kleine interdisziplinäre Teams, zusammengesetzt aus Mitarbeitern des Unternehmens, welche wie ein Startup handeln und agieren. Sie haben denselben Freiheitsgrad wie ein externes Startup, haben jedoch, zumindest in der Pre-Seed-Phase, nur einen Investor: nämlich das Unternehmen, welches das Corporate Startup initiiert hat. Corporate Startups eignen sich für Geschäftsideen, welche sich ohne die Hilfe eines bereits etablierten Unternehmens frei am Markt kaum erfolgreich realisieren lassen.

Diese Möglichkeit möchte ich in diesem Beitrag anhand von zwei konkreten Praxisbeispielen von SIX, dem Infrastruktur-Betreiber für den Schweizer Finanzplatz, ausführen.

SIX Deal Pool

Innerhalb einer Organisation bei der Schweizer Börse hat ein Mitarbeiter aus dem Produkt Management erkannt, dass der Prozess bei der Ausgabe, dem Bilden von Syndikaten und dem Verwalten von Corporate Bonds, immer noch sehr manuell und für alle Beteiligten sehr ineffizient und wenig transparent gestaltet ist. 

Üblicherweise hätte man nun in dieser Situation einen umfangreichen Projektantrag mit einem Lösungsvorschlag geschrieben, die notwendigen Investitionskosten möglichst exakt geschätzt und einen detaillierten Projektplan definiert. Damit das Projekt gestartet werden kann, hätte man bei den entsprechenden Entscheidungsgremien einen Business Case vorlegen müssen. Insgesamt hätte dieser Prozess wohl bis zu 6 Monate gedauert und vor allem zu vielen nicht überprüften Annahmen vor dem Projektstart geführt.

SIX hat sich jedoch entschieden, die Idee ausserhalb der vorhandenen Strukturen und Governance mit einem dedizierten Team und mit grösstmöglichem Freiheitsgrad zu verfolgen. Es wurde ein Corporate Startup mit dem Namen SIX Deal Pool gegründet. 

SIX Deal Pool wurde für das F10 "Prototype to Product" Startup Programm nominiert und hat dieses zusammen mit 15 anderen externen FinTech/InsurTech Startups erfolgreich absolviert. Während des 6-monatigen Programms haben die Mitarbeiter von SIX Deal Pool sämtliche Entwicklungsschritte und Validierungen in der Frühphase eines Startups durchlaufen. 

Nach dem Programm war ein sogenanntes Minimum Viable Product vorhanden, erste Kunden waren auf der entwickelten SIX Deal Pool-Plattform live und ein Geschäftsmodell war etabliert. Da sich die Geschäftsidee von SIX Deal Pool gut mit dem Kerngeschäft der Börseneinheit verträgt, wurde entschieden, dass nach der erfolgreich abgeschlossenen Frühphase (Inkubation), die Wachstumsphase des neuen Produkts innerhalb der bestehen Organisation von SIX weitergeführt wird. Heute ist das Produkt am Markt verfügbar und wird erfolgreich genutzt.

Thingsby7

Innerhalb der Payment Service-Einheit von SIX entstand die Idee, dass man eine neutrale Transaktionsplattform für Smart IoT Devices mit einem Händler-Ökosystem aufbauen könnte. Eine solche Plattform löst für den Endkunden das Problem, dass er sich nicht mehr um Einkäufe von nicht-emotionalen Produkten (beispielsweise WC-Papier, Kaffeekapseln, Waschpulver etc.) kümmern muss. Dieser Part wird delegiert und erfolgt automatisch durch die intelligenten und vernetzten Geräte. 

Diese Idee liess sich nirgends in der Organisation einordnen, zudem handelte es sich um ein sehr spekulatives Geschäftsmodell mit vielen Risiken. Deshalb die Entscheidung: die Geschäftsmodell- und Produktentwicklung soll ebenfalls in einem Corporate Startup realisiert werden. 

Thingsby7, wie das Corporate Startup heisst, wurde ebenfalls im F10 Programm gefördert und hat in den 6 Monaten die gesteckten Ziele erreicht. Im Laufe dieser 6 Monate zeichnete sich jedoch immer klarer ab, dass sich die Idee nirgends in der SIX Organisation platzieren lässt. Zudem bestand kein Interesse, die weiterhin hohen finanziellen Risiken zu tragen – keine Aussichten, das vom Team aufgebaute Produkt und die Geschäftsidee innerhalb von SIX zu positionieren. 

Die Mitarbeiter wollten die Idee jedoch unbedingt weitertreiben und es hatten sich externe Firmen, welche bereits im Laufe der Produktentwicklung einbezogen worden sind, als Investoren gemeldet. SIX zieht nun einen Spin-Off von Thingsby7 in eine im Mehrheitsbesitz der Mitarbeiter befindlichen Firma in Betracht, da nur damit der bereits geschaffene Wert erhalten werden kann. Die weitere Finanzierung wird über eine Minderheitsbeteiligung durch SIX FinTech Ventures und andere Investoren sichergestellt.

Bereits sechs Corporate Startups

Insgesamt haben die Unternehmen, welche an F10 beteiligt sind, bereits sechs Corporate Startups gestartet und über das Programm entwickelt (SIX: xChain, Deal Pool, Thingsby7; Baloise: Monday; Julius Bär: TargetInsights; Generali: Lings)

In einigen Fällen, dort wo die Idee nicht funktioniert hat, war nach 6 Monaten Schluss. Das Team wurde aufgelöst und die Mitarbeiter sind in ihren angestammten Job zurückgekehrt.

Einsichten und kritische Erfolgsfaktoren

Welche Erkenntnisse haben wir aus diesen Anwendungsfällen von Corporate Startups gewonnen und welches sind die kritischen Erfolgsfaktoren?

Corporate Startups vernetzen die Vorteile einer schnellen und agilen, kundenzentrierten Vorgehensweise (Anwendung von Lean Startup und Design Thinking Methoden) mit den Assets (beispielsweise Kunden, Vertrauen, Reputation, finanzielle Stabilität, Mitarbeiter Know-how etc.) eines etablierten Unternehmens – für Geschäftsideen, welche typischerweise nicht unabhängig im freien Markt umgesetzt werden können (Startup Cases). 

Die Team-Mitglieder müssen zu 100 Prozent am Thema arbeiten, den Freiheitsgrad wie Jungunternehmer erhalten und von sämtlichen verlangsamenden Einflussfaktoren des Unternehmens geschützt werden (IT Richtlinien, Branding-Vorgaben etc.). Idealerweise arbeitet das Team in Räumen ausserhalb des Unternehmens in einer Startup-freundlichen Umgebung.

Ein Startup-Programm wie bei F10 hilft den Teams, die richtigen Themen zu adressieren und das Handwerk eines Jungunternehmers zu lernen. Wir haben festgestellt, dass eine positive Wirkung auf die Unternehmenskultur entsteht, wenn man den Mitarbeitern die Möglichkeit gibt, in solche Teams zu wechseln, um ihren eigenen unternehmerischen Geist auszuleben.

Es gibt auch einige Fragen zu diesem Modell, welche nicht zu unterschätzen sind. Fragen, für die noch keine vollständig befriedigenden Antworten und ausgeklügelte Rezepte vorhanden sind. Zum Beispiel und unter anderem:

  • Werden die Stellen der Mitarbeiter, welche zu einem Corporate Startup wechseln, im Unternehmen sofort wiederbesetzt oder über die Dauer der Inkubationsphase (6 Monate) freigehalten? 
  • Was passiert mit Mitarbeitern, deren Stellen wiederbesetzt wurden und deren Corporate Startup nicht erfolgreich war?
  • Welches LohnKompensationsmodell wird für Mitarbeiter im Corporate Startup geschaffen?
  • Was passiert mit dem Corporate Startup, wenn es erfolgreich ist und beginnt, das bestehende Geschäft des Unternehmens zu kannibalisieren?
  • Wann ist der richtige Zeitpunkt für eine Reintegration des Corporate Startups in das Unternehmen – und ist dies überhaupt sinnvoll?

Fazit

Abschliessend bin ich immer noch überzeugt, dass in vielen Fällen die Kooperation mit einem externen Startup der bessere und effizientere Weg ist, um schnell und agil zu neuen Produkten oder Dienstleistungen und damit zu Innovation zu kommen.

Deckt eine Jungfirma mit einer interessante Geschäftsidee ein Geschäftsfeld der Industrie oder des Unternehmens ab, ist aber nicht zu einer Zusammenarbeit bereit, sollte man Corporate Venturing (Achtung: Minderheitsbeteiligung, nicht Akquisition) in Betracht ziehen. 

Ist die Geschäftsidee für Startups nicht interessant oder nicht realisierbar, dann ist das Modell Corporate Startup eine Möglichkeit, die Vorteile beider Welten (Startup-Vorgehen und Unternehmens-Assets) zu kombinieren.

Wir bei F10 sind gespannt auf die künftigen Corporate Startups der Mitglieder und wir arbeiten hart daran, Lösungen zu den im Artikel erwähnten Herausforderungen zu finden.

Der Autor: Andreas Iten

Andreas Iten ist Co-Founder & Member of the Board beim FinTech Incubator & Accelerator F10 in Zürich. Er leitet zudem den 50 Millionen schweren Venture Fund der SIX. Als Innovations- und Entrepreneurship-Stratege und mit über 15 Jahren Erfahrung in den Bereichen IT-Service, Airline & Transport sowie Finanzindustrie agiert Andreas Iten seit 2015 als Technologieinnovator und CIO für den Bereich Financial Information bei SIX.

Als Experte in den Bereichen End-to-End-Innovations-Frameworks, Innovations-Ökosysteme, unternehmerische Spillover-Effekte, neue Technologien, digitale Innovation und Business Transformation ist Iten ein gefragter Redner und Keynote Speaker. Andreas Iten ist international vernetzt und fördert Startups und FinTechs in der Schweiz – als Mitgründer von F10 sowie als Mitbegründer des SIX Hackathons. Beide Institutionen bieten Innovatoren und Startups Plattformen, um Ideen und Konzepte in erfolgreiche Unternehmen mit internationaler Ausstrahlung zu verwandeln.