Digitale Barrierefreiheit als kundenzentrierter Wettbewerbsfaktor

Mann mit Blindenstock und Blindenhund beim Überqueren einer Strasse

Mehr Zukunft als Zwang, sagt Jochen Razum und erklärt, warum digitale Barrierefreiheit über die Wettbewerbsfähigkeit entscheidet – auch bei Banken.

Um Menschen mit besonderen Bedürfnissen an Barrierefreiheit die volle und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, trat im April 2019 der European Accessibility Act (EAA) in Kraft, der alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, die darin festgelegten Massnahmen zur digitalen Barrierefreiheit umzusetzen.

Spätestens bis zum 28. Juni 2022 mussten nationale Gesetze verabschiedet werden – die vollständige Umsetzung dieser Gesetze muss bis zum 28. Juni 2025 erfolgen.

Betroffen sind Unternehmen mit mehr als zehn Mitarbeitern und einem Jahresumsatz oder einer Bilanzsumme von über zwei Millionen Euro.

Was bedeutet das für Schweizer Banken?

Der Bund hat den Accessibility-Standard eCH-0059 Version 3.0 am 21. Mai 2021 als verbindliche Vorgabe eingeführt. Dieser orientiert sich an den international anerkannten Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.1) des World Wide Web Consortium (W3C) – dem globalen Standard für barrierefreie Webinhalte. Zusätzlich nutzt er ergänzende Ansätze, die sich an der EU-Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit orientieren.

Denn für Schweizer Unternehmen, darunter Banken und Versicherungen, die Produkte oder Dienstleistungen in der EU anbieten, sind das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), die deutsche Umsetzung der EU-Richtlinie 2019/882 und die Gesetze anderer EU-Länder relevant.

Was ist mit digitaler Barrierefreiheit gemeint?

Digitale Barrierefreiheit bedeutet, dass Webseiten, Plattformen, digitale Inhalte, Dokumente und mobile Anwendungen so gestaltet werden, dass sie für alle Menschen zugänglich und nutzbar sind – völlig unabhängig davon, ob jemand eine Behinderung hat oder nicht. Ziel ist es, allen Nutzerinnen und Nutzern die gleichberechtigte Teilhabe an der digitalen Welt zu ermöglichen.

In der EU leben rund 101 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung – das entspricht etwa jeder vierten Person, Tendenz steigend. Denn 80 Prozent der Beeinträchtigungen entstehen im Laufe des Lebens, häufig im Alter.

Aber barrierefreie Lösungen schaffen nicht nur Vorteile für Menschen mit Seh-, Hör-, motorischen oder kognitiven Einschränkungen, sondern helfen auch Menschen mit temporären oder situationsbedingten Einschränkungen – etwa bei einem gebrochenen Arm oder lauter Umgebung. Barrierefreiheit ist deshalb kein Nischenthema – sie betrifft die Gesellschaft als Ganzes.

Moderne Lösungen für barrierefreie Kommunikation und Formulare

Moderne CCM-Lösungen (Customer Communication Management) ermöglichen eine effiziente Umsetzung von rechtskonformen und gleichzeitig nutzerfreundlichen digitalen Erlebnissen. So können beispielsweise PDFs und andere Kommunikationsformate so gestaltet werden, dass sie von Screenreadern gelesen werden können.

Darüber hinaus kann die Kommunikation in XML-Formate exportiert werden, die dann in Lösungen von Drittanbietern integriert werden können, um sie in Braille, Grossdruck oder andere benötigte Formate umzuwandeln.

Digitale Formulare können so gestaltet werden, dass sie die körperlichen Einschränkungen und Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer berücksichtigen, zum Beispiel durch die Integration von Alternativtexten zu Bildern oder durch eine logische Abfolge von Fragen, die eine einfache Navigation durch das Formular ermöglichen.

Die Integration von Hilfetexten und klaren Meldungen zur Datenvalidierung trägt ebenfalls dazu bei, dass die Nutzerinnen und Nutzer darauf vertrauen können, dass ihre Angaben korrekt sind und sie problemlos zum nächsten Schritt im Prozess gelangen.

Warum es teuer werden könnte, Barrierefreiheit zu ignorieren

Der Blick über den Atlantik zeigt, wie wichtig und dringend Konformität ist: In den USA ist digitale Barrierefreiheit längst gesetzliche Pflicht. Seit 2019 gilt der Americans with Disabilities Act (ADA) auch für Online-Angebote, und die Folgen sind deutlich spürbar:

Die Zahl der Klagen wegen mangelnder Barrierefreiheit ist von 814 im Jahr 2017 auf über 4'600 im Jahr 2023 angestiegen. Verstösse gegen das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) können mit empfindlichen Strafen von bis zu 100'000 Euro geahndet werden. Zwar ist noch unklar, wie streng die Kontrolle erfolgen wird, doch das Risiko von Sanktionen ist definitiv real. Aber Unternehmen, die jetzt nicht handeln, riskieren ohnehin mehr als Bussgelder.

Barrierefreiheit: Compliance sichern – Markt erobern

Ab Juni 2025 wird Barrierefreiheit gesetzlich verpflichtend – und aus dem Nice-to-have wird endgültig ein Must-have. Doch wer digitale Barrierefreiheit nur als lästige Pflicht begreift, verkennt ihr Potenzial: Sie ist ein strategischer Hebel für Innovation, Markenstärke und Markterfolg.

Unternehmen, die in barrierefreie digitale Lösungen investieren, sichern sich nicht nur die notwendige Compliance, sondern eröffnen sich echte Wettbewerbsvorteile. Sie erschliessen neue Zielgruppen, verbessern das Nutzererlebnis für alle – und positionieren sich als moderne, inklusive Marke.

Dass sich das auszahlt, zeigt eine Studie von Capterra: 38 Prozent der Unternehmen, die barrierefreie Funktionen anbieten, konnten ihren Umsatz steigern. Gerade für Banken und Versicherungen ist Barrierefreiheit deshalb ein zentraler Erfolgsfaktor.

Wer heute in Barrierefreiheit investiert, gestaltet nicht nur die digitale Zukunft mit – er sichert sich auch einen klaren Vorsprung am Markt. Jetzt ist die Zeit, Barrierefreiheit als Teil einer zukunftsfähigen, inklusiven Unternehmensstrategie zu begreifen – und aktiv umzusetzen.

Der Autor: Jochen Razum

Jochen Razum, Sales Director von Smart Communications in der DACH-Region

Jochen Razum ist Sales Director für die DACH-Region bei Smart Communications. Seit über drei Jahrzehnten in der IT-Branche aktiv, verfügt er zusätzlich über eine langjährige Erfahrung mit Kunden aus der Versicherungs- und Finanzbranche. Razum hat strategische Projekte für Unternehmen wie Siemens, Commerzbank, Swisscom, Deutsche Bahn, EON, Deutsche Telekom und Lufthansa begleitet. 

Vor seiner Zeit bei Smart Communications war Jochen Razum unter anderem Manager Business Development bei Oracle Deutschland, Managing Director bei Pitney Bowes Software Europe, Director Business Intelligence bei Skytec sowie Board Member bei Legodo. Razum verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung im Customer Communications Management.