Blockchain

Blockchain in 1, 5 oder 10 Jahren

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Bild: iLexx | Getty Images

Isabella Brom mit einer Bestandesaufnahme der Blockchain-Technologie heute – und mit einem mutigen Blick nach vorn.

"10 years in and nobody came up with a use case for blockchain" –  kommentierte ein Journalist im Kontext des 10-jährigen Geburtstags von Bitcoin. Bitcoin ist der Ursprung der Blockchain-Technologie und zugleich ihre erste, erfolgreiche Anwendung. Bitcoin und ihre verwandten Kryptowährungen ermöglichen seit 2017 mit abenteuerlichen Kursschwankungen grosse Gewinnchancen und haben dadurch eine regelrechte Euphorie ausgelöst. Leider zog die Industrie damit Aufmerksamkeit in einem Mass und auch in einer Art auf sich, welches für die Weiterentwicklung der Technologie wohl eher ungesund war.

Die Technologie verspricht Dezentralisierung und Disintermediation. Dadurch öffnet sie Tür und Tor, um Basisstrukturen in unserer Gesellschaft neu zu entwerfen und bewirkt damit eine Tsunami-artige Welle von Gründungen, zum Teil mit beispiellosen Finanzierungsrunden.

Die bis jetzt ausbleibenden produktiv implementierten, wertschöpfenden Anwendungsfälle führen zu einer Disillusion (vgl. Gartner Hype Cycle) über die tatsächliche Lösungskraft der Technologie. Bei näherer Betrachtung der Entwicklung mit einem langfristigen Zeithorizont sind 10 Jahre allerdings eine kurze Zeitspanne für eine radikale, strukturverändernde Technologie-Innovation. Immerhin eine Technologie mit dem Potential, Interaktion, Wertetransfer und -verteilung sowie Datensicherheit fundamental zu verändern. Dem “Internet of Information” aka World Wide Web folgt mit Blockchain das “Internet of Value” und verpasst der Ära von Economy 3.0 und digitaler Transformation exponentiellen Aufschwung.

Der Goldgräberstimmung folgt die Suche nach Anwendungsfällen jener Technologie, welche reale Business-Probleme effizienter lösen, Prozesse smarter gestalten, neuartige Geschäftsmodelle und Dienstleistungen ermöglichen oder gar neue Märkte schaffen soll. 

Innovation Blockchain

Im Vergleich zu anderen Innovationen wie Augmented Reality, Cloud Computing, Bluetooth, Internet of Things und disruptiven Innovationen, ist Blockchain eine Innovation von fundamentalem Charakter. Das heisst konkret: eine Technologie, welche grundlegende Prozesse der Wirtschaft und sozialer Interaktion zu verändern vermag. Vergleichbar mit dem Internet, das den Informationszugang ausbalanciert und den Informationsaustausch sowie Interaktion verändert hat – welche ihrerseits exponentiell Innovationen auslösen wird.

Blockchain verspricht die Dezentralisierung vielfältiger Prozesse und Strukturen. Im Kern also die Umverteilung von Macht und bestimmender Autorität – weg von zentral agierenden Einheiten, hin zu allen Netzwerkteilnehmern.

Durch ihre einzigartige Kombination von verteilten Datenbankstrukturen, Datensicherheit durch kryptographische Verschlüsselung, Konsens-Mechanismen und Netzwerkstrukturen, ermöglicht die Blockchain, Vertrauen durch Verifikation zu ersetzen. Damit werden mitunter teure Intermediäre, welche dieses Vertrauen zwischen zwei Parteien bis heute ermöglichen, umgangen. Das neue Paradigma heisst: Don’t Trust, Verify.

Blockchain in 5 bis 10 Jahren?

Der Fortschritt der eigentlichen Technologie, ihre breite Anwendung und die Entwicklungen der entsprechenden Regulation sind schwer zu prognostizieren. Erste Stossrichtungen und mögliche Szenarien sind jedoch erkennbar und kristallisieren sich rasch und zunehmend klarer heraus. Denn, was mit Blockchain-Innovation bestimmt kommt, ist eine Beschleunigung der Veränderungsdynamik:

1. Digitalisierung & Smart Contracts

Die Nutzung von Blockchain als Infrastruktur-Technologie für neuartige Lösungsansätze schlägt sich seit 2017 stark im Corporate-Umfeld nieder. Immer mehr etablierte Unternehmen arbeiten an Proof-of-Concepts. Praktisch alle erwarten die produktive Umsetzung von Blockchain-Lösungen in den kommenden Quartalen für intra- oder inter-firmen Anwendungsfälle – fast immer aber basierend auf geschlossenen privaten und mehr oder weniger zentral kontrollierten Systemen.

Deshalb werden die nächsten Jahre da und dort auch viel Ernüchterung bringen. In erster Linie deshalb, weil die meisten dieser Anwendungsfälle mit traditionellen Datenbanklösungen mitunter viel effizienter und schlanker gelöst werden könnten. Der Aspekt echter Dezentralisierung findet bisher oft keinen Platz. Was das Aufkommen von Blockchain-Anwendungen innerhalb oder zwischen Organisationen aber sicher auslösen wird, ist die umfassende Digitalisierung und Standardisierung von Geschäftsprozessen. Dies erst schafft die Grundvoraussetzung für die Nutzung von Smart Contracts.

Zweifellos werden Smart Contracts, das heisst auf der Blockchain selbstständig ablaufende Programme, in den kommenden Jahren einen Sicherheitsgrad erreicht haben, der in verschiedenen Branchen signifikanten Mehrwert schafft. Smart Contracts werden die heute dominierenden formal-rechtlichen Verträge durch Automatisierung von parametrischen Abläufen ergänzen, sie aber kaum vollständig ersetzen, zumindest nicht kurzfristig.

Es werden sich so nur eine Handvoll wirklicher Anwendungsfälle für Blockchain-Technologie herauskristallisieren. Verschiedene weitere Blockchain-verwandte Ansätze werden zur Lösung anderer Problemstellungen in Zukunft noch breiter entwickelt.

2. Blockchain im Zahlungsverkehr

Mit ein Grund, weshalb sich “richtige” Blockchains für den Ersatz von Datenbanken im Corporate-Umfeld nicht eignen, ist ihre hochgradige Ineffizienz hinsichtlich Datenspeicherung und Transaktions-Durchsatz. In den nächsten Jahren ist aber zu erwarten, dass sich Ihre Effizienz derjenigen von zentralen Systemen annähert. Durch die Skalierung der Transaktionskapazität in Richtung Sekunden-Bereich, wird sich eine Blockchain insbesondere dort durchsetzen, wo Kryptowährungen wie Bitcoin bereits heute erfolgreich sind: Peer-to-Peer-Zahlungsverkehr ohne "vertrauenswürdige Dritte":

Trotz ausserordentlicher Kursschwankungen und starker Opposition von traditionellen Marktteilnehmern werden sich Kryptowährungen in 5 Jahren noch stärker etablieren. Spätestens dann, wenn ihre Preisvolatilität sich jener von Fiat angleicht und die Technologie in vielen Aspekten einen noch höheren Reifegrad erreicht hat. Wegweisend für diese Entwicklung werden eine erhöhte Liquidität und/oder die Nutzung von sogenannten Stablecoins – also digitale Token, die mit einem fixierten Wechselkurs an eine konventionelle Währung, zum Beispiel Schweizer Franken, gebunden sind.

Durch dezentrale Geldsysteme wird es auch global den bisher vom traditionellen Bankensystem ausgeschlossenen Gesellschaftsschichten möglich, am globalen Handel und damit auch an wirtschaftlichem Wachstum teilzunehmen.

3. Tokenization

Aus dem ursprünglichen Konzept von "Peer-to-Peer Cash" hat sich die Idee von digitalen "Coins" mit alternativen Verwendungszwecken und deren "Initial Offering" entwickelt. ICOs haben seit 2017 als alternativer Finanzierungsmechanismus die Wagniskapital-Industrie mit einem 3- bis 4-fachen Investitionsvolumen überholt – und sie sind besonders in der Schweiz ein Fokusthema. In den kommenden Jahren werden wir wohl mit verschiedenen Generationen von ICOs mit graduellen Maturitätsstufen konfrontiert werden. Die grosszügig finanzierten Jungfirmen werden in den nächsten 2 bis 5 Jahren den Beweis ihrer Wirtschaftstauglichkeit erbringen müssen. Gelingt ihnen das nicht, werden sie möglicherweise viele Investoren enttäuschen.

Sollten die Regulatoren und die geltende Rechtslage diese Entwicklungen weiterhin zulassen, wird dies aber das System der Kapitalaufnahme komplett umpflügen. Letztendlich wird das insbesondere Token-basierten Geschäftsmodellen Auftrieb verleihen und hoffentlich auch dazu führen, dass sich entsprechende Standards entwickeln.

Mit der Maturität der Blockchain-Technologie sowie angemessener Regulierung werden Tokens, welche als digitale Wertmarken verstanden werden sollen, Assets und Dienstleistungen auf der Blockchain digital repräsentieren und später ersetzen. So lässt sich die Wertschöpfung innerhalb und über Industrien hinweg einfacher, schneller und zugänglicher sowie transparenter gestalten. 

Bereits in wenigen Jahren werden durch diese Tokens in offenen oder geschlossenen Systemen Wirtschaftsgüter, Vermögenswerte und andere Formen von – auch immateriellem – Eigentum digitalisiert, breit zugänglich und handelbar gemacht. So kann Eigentum in Zukunft reibungsfrei in Stunden, Minuten oder gar in Sekunden übertragen werden. Abnahmen können eingeholt, Dokumente können signiert werden und vieles mehr.

Standards für Äquivalente von traditionellen Kapitalinstrumenten wie Aktien werden bereits heute entwickelt, beispielsweise das C-Share Projekt (Daura) oder der ERC-884 Ethereum Token Standard.

Diese Entwicklungen resultieren in gänzlich neuen Formen, Geschäfte ohne Limitierungen zu betreiben. In 5+ Jahren werden Tokens in Systemen für Wertetransfer und Abwicklung von Geschäftsprozessen tief eingebettet sein und als integrierte Bestandteile dieses Layers von aussen kaum wahrnehmbar sein.

Damit wird der Zugang zum Kapitalmarkt und Kapitalerhöhungen – auch in kleinerem Umfang – für eine grosse Zahl von Organisationen möglich, denen dies mit den derzeitigen Systemen verwehrt bleibt. Auch Hürden zur Investition von Kapital für Privatpersonen werden gesenkt, der Markt wird für ein breiteres Publikum mit tieferem Investitionspotenzial zugänglich. Ermöglicht durch kleinere Beiträge und durch komplett digitales Management von Abläufen über das Mobiltelefon.

Blockchain-basierte Zahlungsmittel und zugehörige Dienste ermöglichen den weltweiten Zugang zu einer neuen Generation von "Bankkonten". Gerade auch für Menschen, die heute von einem Bankensystem und den zugehörigen Services wie Kredite, Sparguthaben und anderen Leistungen ausgeschlossen sind –  und damit auch von einer nachhaltigen Lebensplanung, selbstständigem Wirtschaften und der Teilnahme an der Weltwirtschaft.

4. Datenschutz

Die zunehmend vollumfängliche Digitalisierung eskaliert Datenschutz und Dateneigentum über die nächsten Jahre zu einem zentralen Thema – GDPR (General Data Protection Regulation) und Facebook-Datenskandal sind erste Beweise dafür. Fast jede Interaktion ist bald digital tangiert und wir produzieren nahezu konstant und oft unwissentlich Daten über unser Verhalten. Dieser Trend wird sich in den kommenden Jahren verstärken und wirft Fragen auf nach dem Wert, den Eigentümern und den Profiteuren von Daten.

In den nächsten 5 Jahren wird sich der Wert und die Relevanz des immateriellen "Datenguts" zunehmend kristallisieren und wesentlich mitbestimmen, wie Geschäftsprozesse, Kundeninteraktion und Wertschöpfung strukturiert sind. Blockchain-Technologie wird in den Bereichen Datenschutz (Privacy), Datenzugang, -sicherheit und -eigentum eine zentrale Rolle spielen. Sie ermöglicht Transparenz auf die (Weiter-)verwendung von Daten, wo heute keine sind sowie die unveränderbare Zuschreibung zu Urheber oder Eigentümer.

Mit zunehmender Überlappung der realen und digitalen Welt, steigt der Bedarf sprunghaft nach digitalen Identitäten, welche uns in einem digitalen Paralleluniversum begleiten. In der Schweiz ist dieses Konzept bereits mit dem eID Projekt und SwissID aufgenommen worden. In den nächsten Jahren werden verschiedene Blockchain-basierte Lösungen auf den Markt drängen, wie Valid von Procivis, Tykn, Uport von Consensys und ähnliche.

Gänzlich dezentralisierte digitale Identitäten können die Relevanz und Abhängigkeit vom Staat als Identitätsverleiher reduzieren und dem Endkonsumenten volle Kontrolle über Dateneigentum und Datenzugriff geben – und die Möglichkeit, daran zu verdienen.

Eine Revolution?

Dezentralisierungs-Maximalisten sprechen in Bezug auf Blockchain von einer Revolution. Mit dieser Technologie können unsere Geschäftsmodelle, Governance-Systeme, Applikationen, Internet (und alles) in Zukunft dezentralisiert funktionieren, basierend auf resilienten "trust-less" Systemen.

In der Schweiz geniessen wir funktionierende zentrale Systeme. Deshalb braucht es entweder einen Sinneswandel hin zum Wunsch nach totaler Selbst-Souveränität oder nach dezentralisierten Lösungen, welche bessere, nutzerfreundlichere, schnellere und digital integrierte Kundenerlebnisse ermöglichen.

Sollten wir in 10 Jahren in einer dezentralisierten Zukunft angekommen sein, stehen der Blockchain-Technologie auf dem Weg dahin noch viele Entwicklungsschritte bevor. So beispielsweise in den Bereichen Skalierung, Sicherheit, Funktionalität, Regularien, Gesetzgebung sowie Adoption.

Man kann sicherlich davon ausgehen, dass die Blockchain-technologischen Herausforderungen gelöst werden, denn sie kombinieren global die beste Entwickler-Kraft überhaupt. Die Entwicklung von Technologie und Industrie über eine Zeitspanne von 10 Jahren zu prognostizieren, ist sehr anspruchsvoll, wenn auch nicht unmöglich. Mittelfristig können wir jedoch sicher die folgenden Entwicklungen und Veränderungen erwarten:

  • Protokoll-Standards: Einige Protokolle werden sich als Standards für bestimmte Industrien oder Anwendungsfälle durchsetzen. Es werden Meta-Protokolle oder Brücken-Blockchains entstehen, welche die verschiedenen Protokolle miteinander kommunizieren lassen.
  • Blockchain-Industrie: Businessmodelle von Drittparteien und ganzen Branchen werden sich fundamental verändern, indem eine Verlagerung hin zum Service-Dienstleister mit wertschöpfenden Services und Beratung und weg von der Rolle als Vermittler und Intermediär stattfindet.
  • Globale Kompetenz: Mit über 400 Blockchain-Firmen und einem wachsenden Ökosystem-Ansatz hat sich die Schweiz als das "Crypto Valley" global in einer Führungsrolle positioniert. Um sich weiterhin durchzusetzen, wird diese Führungsrolle in Zukunft verteidigt werden müssen gegen Gebiete wie China, Grossbritannien, Singapur und USA.
  • Netzwerk-Ökonomien: Mit Blockchain bewegen wir uns langfristig von der Plattform-Ökonomie hin zur Netzwerk-Ökonomie. Durch hochgradige Vernetzung in einer digitalen Realität wird sich auch die Art und Geschwindigkeit von Zusammenarbeit verändern. Mit Problemlösungsansätzen im Kollektiv ergeben sich laufend neue Synergien. Kombiniert mit dem Open Source-Aspekt von Public Blockchains und globalem 24/7-Austausch wird die Entstehung weiterer Innovationen exponentiell ansteigen.
  • Transparenz: Transparenz auf Daten und Transaktionen erfordert einen Paradigmenwechsel in digitaler Sicherheit, Wertvorstellungen, Ansprüchen auf Daten und Ownership. Davon werden Einzelpersonen betroffen sein, genauso wie Dienstleister, Unternehmen und das Staatswesen.

Feedback willkommen

Grundlage für diesen Artikel war die Anfrage von einem Online-Nachrichtenportal für einen kurzen Abriss über zu erwartende Entwicklungen der Blockchain-Technologie, von Kryptowährungen und der Blockchain-induzierten Transformation. Diese Fragen haben mich nachhaltig beschäftigt und zu dieser vertieften Einschätzung motiviert. Der Artikel beschreibt keine wissenschaftlichen Ergebnisse, sondern reflektiert meine persönliche Wahrnehmung nach mehreren Jahren Vollzeitbeschäftigung in diesem Bereich. Jegliches Feedback ist willkommen.

Die Autorin: Isabella Brom

Isabella Brom beschäftigt sich mit funktionalem Architektur-Design für neuartige Business-Modelle rund um Dezentralisierung, Netzwerk-Ökonomien und Web 3.0. Isabella fungiert ab März 2019 als COO für Kore Technologies, eine Blockchain-fokussierte Software- und Infrastrukturfirma in Zürich.

Ihr Profil kombiniert Erfahrung im Bereich Unternehmensarchitektur und IT-Beratung sowie der Anwendung von Blockchain-Technologie auf Enterprise Level, Blockchain-basiertes Tokenmodell-Design und Datenbanktechnologien. Isabella ist Vorstandsmitglied der Bitcoin Association Switzerland, welche in einem Non-Profit-Format das Konzept von digitalen Währungen fördert. 

In ihrer früheren Rolle bei Ernst & Young Schweiz hat Isabella mit Fortune 500-Firmen digitale Transformationsprojekte durchgeführt. Sie war massgeblich verantwortlich für Aufbau und Leitung der EY Schweiz Blockchain & Crypto Technologies Advisory-Abteilung. Bei EY hat sie erste DLT-Projekte in den Verticals Versicherung, Crypto Asset Storage und Treasury umgesetzt.