Schubumkehr

ING Deutschland läutet die Zinswende ein – Abschaffung der Strafzinsen für 99.9 Prozent der Kunden

Nick Jue, Vorstandsvorsitzender der ING in Deutschland
Nick Jue, Vorstandsvorsitzender der ING in Deutschland (Bild: ING Deutschland)

Was korrekt mit Negativzinsen oder im gepflegten Banksprech mit Verwahrentgelt bezeichnet wird, holt die erste grosse Bank in Deutschland vom Sockel.

Überraschend und vom frühen Zeitpunkt her nahezu schon senationell, was der Vorstandsvorsitzende der ING Deutschland, Nick Jue, zu verkünden hat: "ING Deutschland streicht Verwahrentgelt für fast alle Privatkunden".

Konkret heisst das: als erste grosse Bank läutet ING die Trendwende ein und erhöht ab 1. Juli 2022 die Freibeträge für Guthaben auf Giro- und Extra-Konten (Tagesgeld) von derzeit 50'000 auf 500'000 Euro pro Konto. Das bedeutet bei der ING faktisch die Abschaffung der Strafzinsen, weil, so Nick Jue:

Mit der Erhöhung des Freibetrags für Guthaben auf dem Giro- und Extra-Konto entfällt das Verwahrentgelt für 99.9 Prozent unserer Kundinnen und Kunden

Ein Schritt mit Signalwirkung

Der Mann hat eine Nase für Entwicklungen an der Zinsfront – das haben viele andere Banken auch. Vor allem jedoch hat Jue ein Gespür für die Befindlichkeit von Kunden und für den richtigen Zeitpunkt, damit ist er offensichtlich den meisten anderen Banken voraus.

Die ING hat eher spät und als eine der letzten Banken Negativzinsen auf ihre Kundinnen und Kunden überwälzt. Nun greift die Bank vor und will durch das Heraufsetzen der Freibeträge die positive Zinsentwicklung an den Kapitalmärkten und die zuversichtliche Markterwartung sehr frühzeitig an ihre Kundinnen und Kunden weitergeben. Das ist nicht nur fair, das ist vor allem auch clever. Jue zum bemerkenswerten Schritt:

Unser Versprechen, mit Wegfall der Minuszinsen das Verwahrentgelt zu streichen, lösen wir für fast alle Kunden damit schon vor einer Entscheidung der Europäischen Zentralbank ein

Die Bank räumt auch gleich unverblümt ein, dass die ING Deutschland erwartet, durch die Erhöhung der Freibeträge insbesondere auch jene Kunden zu überzeugen, die bisher den Allgemeinen Geschäftsbedingungen inklusive Verwahrentgelt noch nicht zugestimmt haben – und dass die Bank damit weniger Kunden kündigen wird als zuletzt geplant. Mit anderen Worten: die Bank macht es sich selbst möglich, Strafzinsen-renitente Kundinnen und Kunden zu behalten.

Die von der ING nun angestossene Trendwende bedeutet eben auch, dass Banken generell und in Zukunft Kundinnen und Kunden mit Spareinlagen wieder etwas abgewinnen können. Die ING gibt denn auch zu Protokoll:

"Nach dem planmässigen Rückgang der Kundeneinlagen in etwa gleichen Teilen durch Umschichtungen in Wertpapiere und Abflüsse im ersten Quartal, setzt die Bank jetzt wieder verstärkt auf Einlagenzuflüsse."

Deshalb ist es ab 1. Juli ist auch für Neukunden wieder möglich, ein Extra-Konto (Tagesgeldkonto) bei der ING Deutschland zu eröffnen und den hohen Freibetrag zu nutzen. Auch das bedeutet: Hallo Kunde, Dein Geld ist uns wieder willkommen.

Wie sag ich's meinen Kundinnen und Kunden?

In Europa und auch in der Schweiz haben Banken in den letzten Jahren Negativzinsen an ihre Kunden weiterbelastet, oftmals mit laufend sinkenden Freigrenzen. Wer nicht in die verschiedenen Anlage-Vehikel der Banken investieren wollte, wurde mit Strafzinsen belegt – oder zuweilen auch nahezu rausgeworfen.

Die Kommunikation der einzelnen Banken war sehr unterschiedlich. Zwischen dem partnerschaftlichen Approach "Es tut uns leid, es geht nicht anders" und der unsensiblen Metabotschaft "Sie und ihr Geld sind bei uns nicht mehr willkommen", war praktisch alles zu hören und zu lesen. 

Banken, welche die Negativzinsen-Regelung quasi in Notwehr angewendet und ihren Kunden diese Massnahmen eher empathisch kommuniziert haben, dürften ihr Retailgeschäft auch unter veränderten Vorzeichen weiterhin zur Blüte bringen können. Banken, die in den Phasen der Negativzinsen mit ihren Kunden eher ruppig umgegangen sind und Strafzinsen zusätzlich mit einem bunten Strauss neuer oder stark erhöhter bestehender Gebühren garniert haben, dürften es etwas schwerer haben, die Hürden der Trendwende zu überspringen. Kundinnen und Kunden haben ein Gedächtnis und sollten sie und ihr Geld aufs Mal wieder willkommen sein, haben sie eben auch die Wahl, wo sie sich gut aufgehoben fühlen und ihr Geld parkieren möchten. 

Vorgezogene Schubumkehr

Die vorgezogene Streichung der Negativzinsen der ING Deutschland hat Signalwirkung für Kunden, Kundinnen und vor allem auch für weitere Banken, die früher oder später nachziehen werden. Die Zeichen und Entwicklungen an den Geld- und Zinsmärkten geben die Richtung vor, deshalb dürfte früher deutlich besser ankommen als später.

Das Fed geht mit Leitzinserhöhungen in den USA voran, die EZB wird mit Verzögerung folgen, irgendwann werden auch in der Schweiz die Negativzinsen fallen. Ob die Zinsentwicklung an die Marken vergangener Zeiten jemals wieder herankommt, wird sich erst längerfristig zeigen – die Formel "Zinsen für Geld und Einlagen" dürfte jedoch zurückkommen. Möglicherweise früher als erwartet.

Zu diesem Zeitpunkt werden Normalverdiener und vor allem ihre Einlagen für Banken wieder zu einer relevanten Grösse. Wer dann sein Sparschwein zu welcher Bank trägt, dürfte nicht nur durch die Konditionen der Zukunft beinflusst werden. Mitspielen könnten auch die Massnahmen und die Art der Kommunikation im Umgang mit Kundinnen und Kunden in der Vergangenheit.

Für zahlreiche Banken ein Spaziergang unter veränderten Vorzeichen, für andere Finanzinstitute eine Kommunikations- und Haltungshürde, weil der Unterschied zwischen gestern unwillkommen und heute willkommen nicht allen Vertriebenen ohne Weiteres einleuchtet.