Meinung

Warum die Disruption der Versicherungsbranche erst beginnt

Eine Frau auf einem Stahlgeländer hoch über New York
Bild: Tumisu | Pixabay

Hemmt die Angst vor Kannibalisierung die Entwicklung in der Branche, könnten InsurTechs und Big Techs zu Kannibalen werden.

Die Versicherungsbranche gehört noch nicht zu den wirklich fortschrittlichen und digitalisierten Sektoren. Die Branche hält gerne an Altbewährtem fest. Das sichert hohes Prämienvolumen ohne Hektik und ohne viele Ressourcen in Produktentwicklung, Neuerungen und Digitalisierung investieren zu müssen.

Zuweilen gibt man sich schon damit zufrieden, wenn Kundinnen und Kunden eine Versicherung online abschliessen können, um dann dennoch Policen und Kleingedrucktes als Papierpaket im Briefkasten zu finden. 

Ansätze und Beispiele neuer Versicherungsmodelle und volldigitalisierter Abwicklung gibt es schon, aber eher spärlich. Die Branche läuft Gefahr, an alten Zöpfen festzuhalten und dabei von Kundinnen und Kunden überholt zu werden. Letztere sind schon weiter und stellen vermehrt neue Ansprüche in Bezug auf digitalen Komfort, einfache und klar verständliche Bedingungen sowie faire und flexible Versicherungsmodelle, die zu ihren individuellen Lebensgewohnheiten passen.

Angst vor Kannibalisierung hemmt die Entwicklung

Kreative Versicherungsprodukte kommen in erster Linie von Startups und InsurTechs, seltener von klassischen Versicherern. Das ist verständlich, die Angst vor Kannibalisierungs-Effekten hindert Versicherer daran, bisher bewährte Produkte infrage zu stellen. Zumal lange Laufzeiten mit möglichst langer Vertragsbindung, uniforme und unflexible Produkte für alle, seitenweise Kleingedrucktes mit zahlreichen Ausschlüssen und mehr, klare Vorteile bringen. Allerdings nur für Versicherer, nicht für deren Kundinnen und Kunden. 

Aufsehenerregende Neuerungen aus dem Kreis der etablierten Versicherungsgesellschaften sind heute noch dünn gesät. Alternative Strategien gibt's jedoch schon. Die Baloise liefert dazu ein plakatives Beispiel mit ihrem InsurTech Friday. Das Startup hat die Zeichen der Zeit richtig gedeutet und definiert bereits seit einigen Jahren das Thema Versicherung von Grund auf neu. Vor allem in Deutschland, teilweise auch in anderen Ländern, aber: nicht in der Schweiz. Daran wird sich vorausichtlich solange nichts ändern, als Schweizerinnen und Schweizer bereit sind, sich mit überholten und unflexiblen Produkten zu begnügen. Die Strategie ist aus Sicht eines Versicherers nachvollziehbar, Vorsprung hat weniger Bedeutung als selbst ausgelöste Kannibalisierungs-Effekte. Immerhin ist die Baloise mit den Friday-Konzepten bereit, wenn der Wind sich dreht. Und er wird sich drehen.

Was kommt dabei heraus, wenn das Thema Versicherung neu gedacht wird?

Eine Haltung mit konkreten Ergebnissen, die in der Schweiz momentan noch schwach, im Ausland teilweise sehr viel stärker ausgeprägt ist und deutlich spürbar wird. Lebensgewohnheiten und auch Lebenssituationen haben sich individualisiert und sind mit Standardprodukten schlecht abzudecken. Gefragt sind sehr flexible Produkte, die zur heutigen Situation von verschiedenen Altersgruppen, Einzelpersonen, Familien, Wohngemeinschaften und anderen Gruppen passen – und auch schnell und online angepasst werden können, wenn sich Situationen oder Wünsche ändern.

Oder, einige konkrete Beispiele, um die hauptsächlichen Defizite überholter Versicherungsprodukte zu markieren. Und damit auch zu zeigen, wohin die Reise mit neuen Versicherungsprodukten gehen wird.

Einfach, kurz und klar, statt langfädig und kryptisch

Es gibt heute InsurTechs, die ihre Versicherungsbedingungen kurz, einfach, klar und für alle verständlich in wenigen Sätzen formulieren. Damit geben sie ihren Kundinnen und Kunden das gute Gefühl, umfassend versichert zu sein. Wenn was passiert, zahlt die Versicherung.

Klassische Versicherer neigen nach wir vor dazu, ihre verschiedenen Ausschlüsse, Zusatz- und Nebenbedingungen im Kleingedruckten auf mehreren Seiten zu verpacken. Das lesen und verstehen die wenigsten, das Kleingedruckte kann jedoch die eine und andere Überraschung enthalten, die erst im Schadenfall zündet.

Monatlich kündbar, statt lange Laufzeiten

Die frühere Unsitte der Versicherer, zum Beispiel Hausratversicherungen mit Lautzeiten von mehreren Jahren zu platzieren ist dem Widerstand der Kundengruppen gewichen. Aber mindestens ein Jahr soll's weiterhin sein. Und wer vergisst, drei Monate vor Ablauf zu kündigen, das passiert fast allen, ist für ein weiteres Jahr zwangsverpflichtet.

Gar keine gute Idee. Zufriedene Kundinnen und Kunden müssen nicht angekettet werden, die bleiben freiwillig. Unzufriedene Kunden soll man ziehen lassen, solche mit besseren Angeboten der Konkurrenz sollen durch eigene Produktanpassungen überzeugt werden.

Moderne Versicherungsprodukte haben keine fixen Laufzeiten mehr, die können monatlich gekündigt werden. 

Variable Tarife für unterschiedliche Verhaltensweisen und Gewohnheiten

Einer wachsenden Zahl von Kundinnen und Kunden leuchtet heute nicht mehr ein, weshalb bei Autoversicherungen kilometergenaue Abrechnungen in der Schweiz die absolute Ausnahme bleiben. Ein Auto, dass zu 95 Prozent in der Garage steht, produziert keine Schadenfälle, es wird erst zum Risiko, wenn es bewegt wird. Die Haltung "irgendwie gleich und so weit wie möglich pauschal für alle" wird irgendwann nicht mehr akzeptiert.

Wer viel fährt, soll für seine vielen gefahrenen Kilometer entsprechend bezahlen, Dauerparkierer und Wenigfahrer hingegen sparen mit ihrem Auto im Stillstand Geld. Irgendwie logisch. Hierzulande noch nicht.

Versicherungen zum An- und Ausknipsen

Ebenso die Ausnahme bilden Versicherungen, die sich via App abschliessen und sofort aktivieren lassen – dann, wenn man sie wirklich braucht. Und umgekehrt: ausknipsen, wenn gerade kein Versicherungsschutz notwendig ist. Das ist praktisch für Reiseversicherungen. Oder auch für Bergsteiger, Fallschirmspringerinnen und andere Gruppen, die zu bestimmten Zeiten irgendetwas tun, was besonders und zusätzlich versichert werden muss. Das kann Personen oder Objekte betreffen. Aber nicht pauschal und ganzjährig, sondern nur dann, wenn sie reisen, an der Wand hängen oder in der Luft unterwegs sind. 

Kreative, flexible und für individuelle Bedürfnisse konzipierte Versicherungsprodukte sind heute noch die Ausnahme. Es gibt sie, sie sind jedoch dünn gesät und kommen meistens aus der Werkstatt von Startups und InsurTechs. Warum eigentlich? Klassische Versicherer mit ihrer umfassenden Erfahrung wären doch prädestiniert, um über ihren eigenen Versicherungsrand hinauszudenken.

Zusatzpunkt: Finanzielle Spielräume werden kleiner

Dazu kommt ein Faktor, den Versicherer möglichweise unterschätzen. Konsumentinnen und Konsumenten vergleichen Versicherungsangebote zum Teil heute schon, sofern sie aufgrund unterschiedlicher Leistungen überhaupt vergleichbar sind. Angebote, Leistungen und Prämien sind jedoch bisher nicht grundsätzlich infrage gestellt worden. Davon profitiert die Branche. 

Aktuell werden zahlreiche Haushalte zusätzlich belastet durch die generelle Teuerung, steigende Energie-, Miet- oder Hypo-, Gesundheits und Lebenshaltungskosten. Bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung schränken diese Faktoren den finanziellen Spielraum ein, teilweise sogar sehr empfindlich. Die Suche nach Einsparmöglichkeiten schiesst vermehrt auch die zahlreichen Versicherungen mit ein, die das jährliche Budget belasten. Was seit Jahren gewohnter Teil des Haushaltsbudgets war, wird in nächster Zeit verschärft auf den Prüfstand gestellt.

Wer als Anbieter in Bezug auf Kosten sowie auch mit wirklich guten Produkten Antworten auf veränderte Anforderungen liefern kann, ist im Vorteil.

Warum InsurTechs mit neuen Ideen grosse Chancen haben

Generell öfnen sich Türen, in Zeiten wie diesen sogar Tore, für kreative InsurTechs, klassische Versicherer und Big Techs, die Versicherung neu denken. Wer hier mit smarten Produkten, flexiblen Angeboten und fairen Preisen den Markt überrascht, braucht diese offenen Türen und Tore nicht einzurennen. Deshalb haben Anbieter mit neuen Ideen grosse Chancen. Heute schon. In Zukunft dürften die Felder noch grösser werden. Diese Zukunft wird überholte Versicherungsprodukte von gestern zu Ladenhütern machen. Eine Entwicklung, die schneller an Fahrt aufnehmen könnte, als man heute denkt. 

Solange angejahrte Konzepte und uniforme Produkte der letzten Jahrzehnte akzeptiert werden, wecken klassische Versicherer von sich aus keine schlafenden Hunde. Das muss kein Problem sein, sofern alternative Konzepte vorhanden sind, die eher schnell ausgerollt werden können.

Versicherungsgesellschaften im Schlafmodus, die sich nur aufgrund ihrer umfassenden Erfahrung aus der Vergangenheit auf der sicheren Seite für die Zukunft sehen, sind jedoch gefährdet. Die schlafenden Hunde könnten, einmal erwacht, blitzschnell und von verschiedenen Seiten zubeissen. Oder, wenn sie friedlich bleiben, sich in die schnell wachsende Karawane jener einreihen, die für ihr Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit neue Anbieter ansteuern, welche die Zeichen der Zeit richtig gedeutet und die neuen Wünsche ihrer Kundinnen und Kunden verstanden haben.