InsurTech

InsurTech Lemonade tickt nun auch in Grossbritannien anders

Eine Smartphone-Ansicht mit InsurTech-Angeboten
Bild: Oulaphone-Sonesouphap | Getty Images

Seit 2019 besetzt das US-amerikanische InsurTech Terrain in Europa – in Grossbritannien startet Lemonade in Kooperation mit dem klassischen Versicherer Aviva.

Das InsurTech Lemonade tickt aus mehreren Gründen anders, in erster Linie aus einer einfachen Überlegung: das Unternehmen geht davon aus, dass die Zahl der versicherungsmüden Kunden stark wachsen wird. Diese wachsende Kundengruppe tickt ebenfalls anders: sie hat genug von komplizierten Prozessen, kleingedruckten Stolperfallen, langen Vertragsbindungen und oftmals überhöhten Prämien. Auf diesen interessanten Pool, der inzwischen eine beträchtliche Grösse erreicht hat, richtet das InsurTech seine Angebote aus.

Lemonade ist natürlich nicht das einzige InsurTech, das diesen Pool in Arbeit hat und durch eigene Leistungen zusätzlich vergrössert. Inzwischen sind zahlreiche InsurTechs im Spiel, die mit smarten Angeboten und spielerischen Elementen Versicherungen aus der Ecke des "notwendigen Übels" holen. 

Wie die Versicherungsbranche auf dieses neue Klima reagiert

Die Branche der klassischen Versicherer teilt sich, vereinfacht und deshalb auch ein bisschen ungerecht betrachtet, grob in drei Gruppen auf:

Die Resistenten: Das sind jene, die eisern an allem festhalten, was ihnen in den letzten Jahrzehnten fette Ernten eingebracht hat. Sie werden sang- und klanglos untergehen, weil sie nicht erkennen, dass die neuen Spielregeln nicht mehr einseitig, sondern von verschiedenen involvierten Parteien gemacht werden. Kommt der Wandel irgendwann in den Köpfen der Resistenten an, ist es zu spät. Die Zeit wird nicht mehr reichen, einen inzwischen altmodischen Versicherer zu einem dynamischen Anbieter zu transformieren.

Die Flexiblen: Diese Versicherer haben die Zeichen der Zeit gedeutet und die Erkenntnisse in ihre Strategie integriert. Sie modifizieren ihre Angebote und Versicherungsmodelle, digitalisieren ihre Prozesse und kooperieren mit verschiedenen neuen Partnern. Zum Teil mit InsurTechs, zum Teil mit Banken, zum Teil mit ganz anderen Partnern. Sie haben gute Chancen, auch in Zukunft die gewünschte Rolle zu spielen, weil nicht der Markt allein sie gestaltet, sie bleiben am Puls und gestalten den Markt aktiv mit.

Die Raffinierten: Diese Kategorie benimmt sich im eigenen Land so, wie die Resistenten das tun: nichts ändern und abschöpfen, solange es irgendwie geht. In Nachbarländern bauen sie jedoch InsurTechs auf, testen neue digitale Versicherungs- und Preismodelle und rüsten kräftig auf. Läuft das Fass der Versicherungsmüden im eigenen Land über, bringen sie ihre digitalen und erprobten Modelle in die Schweiz und beginnen ein neues Leben als InsurTech. Auch sie haben gute Chancen, am Ball zu bleiben, man mag sie einfach etwas weniger als die Flexiblen.

Wie Lemonade sich in diesem neuen Klima bewegt

Das Versicherungs-Startup Lemonade gilt in den USA seit seiner Gründung 2015 als Erfolgsmodell, weil es Versicherungen anders denkt. Sicher ohne Papier und digital, auf einfache Prozesse bedacht und deshalb auch KI-getrieben. Versicherungen sollen schnell und problemlos auf dem Smartphone oder PC abgeschlossen werden können. In den Kosten tief, in den Konditionen fair, ohne lange Laufzeiten und Kündigungsformalitäten. Mit dazu gehört, dass Schäden ebenso digital über die gewohnten Devices gemeldet werden können und oftmals innerhalb von Sekunden ausbezahlt werden.

Das eine wie das andere bleibt für Kundinnen und Kunden einfach und unkompliziert. Ein Chatbot namens Maya führt durch die notwendigen Prozesse – und die sind so ausgelegt, dass Kunden nichts falsch machen können und deshalb auch nicht in unlogischen Prozessen steckenbleiben.

"Vergiss alles, was du über Versicherungen weisst"

Mit diesem selbstbewussten Approach hat Lemonade 2019 zum Start in Europa die Erinnerungen von Versicherten auf null gesetzt und sie motiviert, Versicherungen neu zu testen und zu erleben. Das nachgeschobene "Alles im Nu. Dufte Preise. Grosses Herz." zielt auf digitales Tempo und tiefe Preise. Das grosse Herz erklärt sich durch laufende Spenden. Was nach Abzug von Betriebskosten und "etwas Profit" sowie der Kosten für Rückversicherung und Auszahlung von Schadenfällen übrig bleibt, wird gespendet. Nach Aussagen von Lemonade eine erhebliche Quote. 

Diese Spenden gehen an gemeinnützige Institutionen und Non-Profit-Organisationen, welche jeder Kunde bereits beim Abschluss der Versicherung festlegen kann. Nach Angaben von Lemonade stehen dabei Themen wie Gleichberechtigung, Klima und Armutsbekämpfung im Vordergrund.

Das Video vermittelt einen Eindruck, wie das digitale Abschliessen der Versicherung oder die Meldung eines Schadens online über die Bühne gehen kann.

Die Europa-Expansion von Lemonade

Ende 2019 in Deutschland gestartet, hat das InsurTech sein Geschäftsmodell in weiteren Märkten ausgerollt und ist heute auch in Frankreich, in den Niederlanden und seit Anfang Oktober 2022 in Grossbritannien aktiv. Auch im neusten Markt bietet Lemonade zum Start sein Hauptprodukt an, die Hausratversicherung, und bleibt dem Versprechen treu: abschliessen und Schadenregulierung online und in Sekunden.

Die Hausratversicherung ab 4 £ pro Monat umfasst eine weltweite Deckung von jeweils bis zu 2'000 £ für einzelne persönliche Gegenstände, eine Gesamtdeckung von bis zu 100'000 £ und hat keine Kündigungsgebühren. Mobile Geräte können auf Wunsch zusätzlich gegen Dienstahl, Verlust sowie versehentliche Beschädigung versichert werden. Auch für umfassenden Rechtsschutz ist eine Zusatzversicherung im Programm.

Strategische Partnerschaft mit dem britischen Versicherer Aviva

Lemonade muss in Grossbritannien nicht bei null beginnen, ein etablierter Versicherer mit Tradition und einer 325-jährigen Geschichte hilft bei der Marktöffnung. So wie im Finanzbereich Banken und FinTechs kooperieren, so legen auch in der Versicherungsbranche etablierte Versicherer und InsurTechs ihre unterschiedlichen Stärken zusammen. Der Vertrauensbonus, der von Aviva kommt, dürfte als Türöffner Lemonade einiges bringen. Umgekehrt profitiert Aviva von einem digitalen Versicherungs-Typ, der bisher nicht im Angebot war.

Aviva gehört in Grossbritannien zu den führenden Versicherungs-, Vermögensverwaltungs- und Altersvorsorgeanbietern mit internationalen Aktivitäten in Irland, Kanada, Singapur, China und Indien. Das Aviva-Portfolio von 18.5 Millionen Kunden und die neue Kooperation öffnet für den klassischen Versicherer wie auch für das InsurTech interessante Perspektiven. Aviva hat ein neues Angebot für versicherungsmüde Kunden im Programm und verhindert damit Abgänge, Lemonade verfügt durch die Kooperation über einen zusätzlichen und erfolgversprechenden Vertriebskanal mit einer grossen bestehenden Kundenbasis.

Die einen haben, was die anderen brauchen

Das Modell der Kooperationen auf Augenhöhe dürfte in nächster Zeit in der Versicherungsbranche verstärkt Schule machen. Klassischen Versicherern gehen irgendwann die Ideen aus, InsurTechs brauchen grosse Kundenstämme, um erfolgreich geschäften zu können. Die einen haben, was die anderen brauchen. Werden diese Stärken zusammengelegt und klug kombiniert, resultieren daraus Gewinner auf allen Seiten.