FinTech Wirecard: Die Tragödie in drei Akten kommt in die Phase der Zitterpartie

Schild Notfall in einer Klinik
Bild: code6d | Getty Images

Eine Stellungnahme des Wirecard-Vorstands zur aktuellen Lage des Unternehmens schafft Klarheit – zum Teil.

Das Trauerspiel um den Zahlungsdienstleister Wirecard geht weiter und nimmt in der aktuellen Entwicklung dramatische Formen an. Eine Tragödie in drei Akten:

Der erste Akt: Investigative Journalisten allein auf weiter Flur

Dieser Akt war der längste und hat sich über Monate hingezogen. Die Redaktion der britischen Financial Times hat Wirecard seit Jahren schon unterstellt, dass bei Zahlen, Bilanzen und Geschäftsmodell etwas faul wäre. Die Vorwürfe wurden von Wirecard und auch von CEO Markus Braun jeweils vehement dementiert.

Den "Unterstellungen" der investigativen Journalisten wollte auch ausserhalb von Wirecard niemand folgen. Der DAX-Highflyer mit Erfolg und schnellem Wachstum blieb der Liebling von Aktionären, Investoren, Banken und auch der Presse – da mochte auch die BaFin nicht den Spielverderber geben.

Der zweite Akt: Schock und Suche nach verschwundenen Milliarden

Wirtschaftsprüfer Ernst & Young (EY) verweigert Wirecard das Testat, die Präsentation des Jahresabschlusses muss erneut verschoben werden. Begründung des Unternehmens: EY hätte für "Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro noch keine ausreichenden Prüfungsnachweise“ erhalten. Die Suche nach den verschwundenen 1,9 Milliarden Euro, welche auf Treuhandkonten bei zwei philippinischen Banken liegen sollten, bleibt erfolglos – die genannten Banken wissen von nichts und geben an, keine Beziehungen zu Wirecard zu unterhalten.

Der Wirtschafts- und Bilanzkrimi geht in eine nervöse Phase, immerhin stehen Kreditlinien von insgesamt rund zwei Milliarden Euro auf dem Spiel, die von mehreren Banken gekündigt werden könnten. Vorstandschef und CEO Markus Braun äussert einen Tag vor seinem Rücktritt die Vermutung, dass Wirecard Opfer eines gigantischen Betruges geworden sein könnte.

Die Ratingagentur Moody's stuft die Wirecard-Aktie auf Ramschniveau zurück, innerhalb von zwei Tagen bricht der Kurs pro Aktie von über 100 Euro auf 25 Euro ein. Vollends ins Bodenlose fallen die Papiere mit der Stellungnahme von Wirecard, welche der Vorstand des Unternehmens am 22. Juni 2020 um 02:48 Uhr publiziert. Der Vorstand schafft in seiner "Stellungnahme zur aktuellen Lage des Unternehmens" in den folgenden Punkten (teilweise) Klarheit:

Punkt 1
Der Vorstand geht davon aus, dass die "bisher zugunsten von Wirecard ausgewiesenen Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insg. 1,9 Mrd. Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen". Der Vorstand weiter: "Die Gesellschaft ging bisher davon aus, dass diese Treuhandkonten im Zusammenhang mit dem sog. Drittpartnergeschäft (Third Party Acquiring) zugunsten der Gesellschaft bestehen und hatte sie entsprechend in der Rechnungslegung als Aktivposten ausgewiesen",

Punkt 2
Der Vorstand geht ausserdem davon aus, dass "die bisherigen Beschreibungen des sog. Drittpartnergeschäfts (Third Party Aquiring) durch die Gesellschaft unzutreffend sind" und die Gesellschaft wird weiter untersuchen, "ob, in welcher Art und Weise und in welchem Umfang dieses Geschäft tatsächlich zugunsten der Gesellschaft geführt wurde".

Punkt 3
Wirecard nimmt die Einschätzung des vorläufigen Ergebnisses des Geschäftsjahres 2019 sowie die Prognose für das Geschäftsjahr 2020 zurück und stellt fest: "Mögliche Auswirkungen auf die Jahresabschlüsse vorangegangener Geschäftsjahre können nicht ausgeschlossen werden".

Punkt 4
Der Vorstand zu den aktuellen Massnahmen: "Darüber hinaus prüft die Gesellschaft eine Reihe weiterer Massnahmen um eine Fortsetzung des Geschäftsbetriebs zu gewährleisten, einschliesslich Kostensenkungen sowie Umstrukturierungen, Veräusserung oder Einstellungen von Unternehmensteilen und Produktsegmenten".

Der dritte Akt: Offener Ausgang mit geringer Aussicht auf eine gutes Ende

Man braucht die weitere Entwicklung nicht vorwegzunehmen, aber in unserer Betrachtung sieht die Zukunft von Wirecard eher düster aus. Mit den vom Vorstand des Unternehmens präsentierten Fakten rückt das Debakel um Wirecard in die Nähe des schlimmsten aller denkbaren Szenarien, das keine Gewinner hinterlässt, die investigativen Journalisten der Financial Times einmal ausgenommen.

Warum der dritte Akt der Tragödie zur Zitterpartie für alle Beteiligten wird

Um die Abklärung der Vorgänge im Hause Wirecard werden sich die Staatsanwaltschaft München (bereits am Ball), die BaFin (spätestens jetzt im Boot) und weitere Institutionen im Detail kümmern. Wer zu den Verlierern dieser Zitterpartie gehören wird, zeichnet sich jedoch jetzt schon ab.

Offenbar sind die Treuhandkonten mit den "verschwundenen" 1,9 Millliarden Euro real nicht vorhanden, sie spielen einzig in der Bilanz des Unternehmens als Aktivposten eine Rolle. Zudem weiss der Vorstand nicht zu sagen, ob das Third Party Acquiring als Teil des Geschäftsmodells überhaupt stattgefunden hat.

Die in der Bilanz ausgewiesenen 1,9 Milliarden Euro, die es "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit" nicht gibt, verändern nicht nur das Geschäftsergebnis 2019, sie könnten sich in der Folge auch auf die Jahresabschlüsse vergangener Jahre auswirken.

Wenn die Alarmglocken jetzt noch nicht schrillen, dann spätestens mit der Ankündigung von Massnahmen, um den Betrieb aufrechterhalten zu können. Da sollen Kostensenkungen, Umstrukturierungen sowie auch Veräusserung oder Einstellung von Unternehmensteilen geprüft werden. Mit anderen Worten: Wirecard steht das Wasser bis zum Hals.

Von dieser Tragödie im dritten Akt sind neben Kunden und Partnern vor allem 5'800 Mitarbeiter betroffen, welche um ihre Jobs fürchten müssen und im Moment miterleben, wie sich ihr Arbeitgeber demontiert. Aktionäre, Kleinanleger und Investoren fragen sich, ob Wirecard in die Insolvenz geht oder gerettet wird und ob der Absturz der Aktie weitergeht oder einen Boden findet. Das Konsortium der kreditgebenden Banken steht in Verhandlungen mit dem Vorstand von Wirecard und wird sich überlegen, ob eine Rettung unter neuen Bedingungen bessere Perspektiven bieten kann im Vergleich zu einem Abschreiber der rund 1,6 Milliarden beanspruchten Kredite.

Mit im Boot bei all diesen Fragen ist nach Aussagen des Wirecard-Vorstandes die Investmentbank Houlihan Lokey aus Los Angeles, spezialisiert auf Sanierungsfälle und Insolvenzen. Zusammen mit Houlihan Lokey will die Gesellschaft Möglichkeiten für eine nachhaltige Finanzierungsstrategie des Unternehmens prüfen.