Ist Worldcoin ein geniales Projekt oder eine dystopische Vision?

Der Orb von Worldcoin und die World-ID
Bild: Worldcoin

Möglicherweise beides, zahlreiche Fragen sind noch offen – aber: die Welt-ID und die Welt-Währung von Worldcoin gehören zu den spannenden Visionen.

Dass Sam Altman mit seinem Unternehmen Open AI die Welt, Massen und auch andere Big Techs bewegen kann, hat er bereits hinlänglich bewiesen. Mit ChatGPT hat er dem etwas abstrakten Begriff "Künstliche Intelligenz" ein fassbares Gesicht und KI eine für alle nutzbare Anwendung gegeben. 

Im November 2022 lanciert, nutzen heute Millionen von Menschen, Unternehmen, Medien, Schulen und andere die Möglichkeiten von KI im Alltag. ChatGPT kann Fragen beantworten, dichten, konzepten, Artikel schreiben, programmieren, komponieren, Rätsel knacken – und mehr. Die Ergebnisse mögen unterschiedlich ausfallen, die Resultate bleiben erstaunlich und deshalb ist der Nutzwert eher hoch.

Nun überrascht der 38-jährige Visionär die Welt zum zweiten Mal: mit der Idee einer digitalen World ID und eines digitalen World Coins. Mit seinem Worldcoin-Projekt löst Altman jede mögliche Art von Reaktionen aus, zwischen Entsetzen, Empörung, Faszination und Beifall ist im Moment alles zu haben. Zudem kommt die Diskussion wieder in Fahrt, ob die Verantwortung für eine Welt-ID bei Staaten und einer geeinten Staatengemeinschaft liegen muss. Die Zuständigkeit für eine digitale Welt-Währung ebenso. Oder ob private Gruppen und Unternehmen hier einspringen dürfen, wenn Staaten das eine wie das andere weder können noch wollen.

Gibt es bereits eine digitale Welt-ID?

Eine digitale Welt-ID hat bisher noch niemand geschaffen, obschon sie sehr sinnvoll und notwendig wäre. Einzelne Staaten stellen ihren Bürgerinnen und Bürgern den Nachweis der eigenen Identität in Form einer technologisch umgesetzten digitalen Identität zur Verfügung, auch die Schweiz unternimmt Anläufe mit der E-ID. Solange allerdings nur sehr wenige Länder eine brauchbare Lösung haben und digitale Identitäten nicht länderübergreifend funktionieren, solange gibt's eben auch keine Welt-ID.

Gibt es bereits eine digitale Welt-Währung?

Projekte in diese Richtung gab's schon mehrere. Bitcoin-Maximalisten glauben, mit dem Bitcoin den Weg zur Weltwährung zu schaffen. Dieser Weg ist allerdings, falls überhaupt machbar, noch sehr lang. Das interessante und aufsehenerregende Projekt von Libra und Diem ist nach viel und langem Anlauf ziemlich sang- und klanglos wieder in die Vergessenheit abgetaucht. Eine digitale Welt-Währung steht den Interessen einzelner Länder im Wege, deshalb entwickeln Staaten CBDCs (Central Bank Digital Currencies). Auch hier: solange Partikulärinteressen im Vordergrund stehen, solange wird's auch keine digitale Welt-Währung geben, die überall und universell eingesetzt werden kann.

Sam Altman und seine Vision einer Welt-ID und einer Welt-Währung

Im Gegensatz zu Staaten verteidigen private Gruppen und Unternehmen weniger Länderinteressen, sie denken grossräumiger. Deshalb kommen aus der Privatwirtschaft immer mal wieder Initiativen für eine Welt-ID und für eine digitale Welt-Währung. Beide werden in der Regel von Staaten vehement behindert und bekämpft.

Der aktuelle Anlauf kommt nun von Tools for Humanity (TFH). Das Technologie-Unternehmen ist eine Schwestergesellschaft von Open AI. TFH wird von Sam Altman und Partnern gehalten, das Unternehmen ist mit relativ viel Venture Capital finanziert. TFH hat das Projekt Worldcoin lanciert und verfolgt mehrere Ziele. 

Zum einen soll jede Person der gesamten Weltbevölkerung über einen Iris-Scan eine eindeutige und unverwechselbare digitale Identität erhalten. Im ersten Go soll der unbestechliche Iris-Scan dafür sorgen, dass Menschen eindeutig von Maschinen und Künstlicher Intelligenz unterschieden werden können. Dieser Aspekt ist nicht ganz ohne Ironie, wenn auch notwendig. Ironie deshalb, weil Altman mit seiner KI-Revolution mithilft, die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschwimmen zu lassen. Ob ein Mensch oder eine Maschine (KI) hinter Bildern, Videos oder Texten steht, ist heute nicht mehr so klar, wie vor der KI-Offensive. Dieser Meinung ist Altman auch, deshalb will er jetzt mit seiner World ID das zum Teil mitverantwortete Problem wieder aus der Welt schaffen.

Zum anderen sollen Personen, die ihre Iris scannen lassen und sich damit eine World ID schaffen, mit einer digitalen Währung dafür belohnt werden. Sie erhalten für die Preisgabe ihrer biometrischen Daten 25 WLD, das ist die digitale Währung von Worldcoin, der Worldcoin-Token. 25 WLD entsprechen aktuell knapp 60 US-Dollar. Weitere Zahlungen sollen folgen, so dass die Wallet der World-ID-Inhaber laufend gefüllt wird. Konkret sollen Nutzerinnen und Nutzer pro Woche einen weiteren Token kostenlos beanspruchen können. Vier WLD-Token pro Monat schaffen noch keine Reichtümer, aber: diese knapp 10 US-Dollar pro Monat sind in ihrem Wert in anderen Weltregionen sehr viel höher einzustufen als hierzulande.

Das Worldcoin-Projekt will aber noch mehr: neben sicherer Identifizierung, sollen Inhaberinnen und Inhaber der World ID Zugang zu zentralen Dienstleistungen erhalten, nach der Idee der Macher auch zu staatlicher Unterstützung. Finanzdienstleistungen sollen in Anspruch genommen werden können und als Fernziel steht ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) für alle mit im Programm. Altmann will mit seinem Projekt den Grundstein dazu legen und die technologischen Strukturen schaffen, die Staaten nutzen können, um ihren Bürgerinnen und Bürgern Leistungen zukommen zu lassen, neben anderen auch ein BGE, sollte die Zeit dafür reif werden.

Mit zum Konzert der Massnahmen gehört neben der World ID und dem Worldcoin (WLD) auch die World App. Mit dieser App sollen Käufe, Zahlungen und Überweisungen P2P möglich werden, also direkt von Nutzerin zu Nutzer, ohne Banken oder andere Intermediäre.

Wie wird die eigene Iris zur World ID?

Im Zentrum steht eine futuristisch anmutende Metallkugel, etwa so gross wie ein Fussball, namens "Orb". Orb ist ein Iris-Scanner, der die Iris erfasst und die offenbar unverwechselbaren Merkmale dieser Regenbogenhaut in einen Hashwert als einzigartige ID umwandelt. Mit dieser World ID, so die Gründer, werden alle bisherigen Notwendigkeiten wie Name, E-Mail, Telefonnummer, Passwörter oder PINs überflüssig, die World ID soll zum alleinigen und sicheren Identitätsnachweis werden.

Bisher sollen nach Angaben des Unternehmens bereits 359 Orbs in 34 Ländern im Einsatz sein. Weitere mehrere tausend Iris-Scanner sind in Produktion. Die Orbs sollen in allen Ländern in Städten und zentralen Orten verfügbar werden. Den Deal Iris-Scan gegen 25 Worldcoin-Token haben bisher weit über 2 Millionen Menschen gemacht, sie sind damit Inhaberinnen und Inhaber einer World ID.

Was ist vom Projekt Worldcoin zu halten?

Das Projekt ist noch jung und steht am Anfang. Die momentanen Reaktionen variieren in der vollen Bandbreite zwischen blankem Entsetzen und Begeisterung. Sehr viele Fragen sind noch offen und nicht geklärt. Neben Fragen der Finanzierung vor allem auch datenschutzrechtliche Punkte und Bedenken. 

Staaten und Regulatoren werden sich dem Projekt annehmen, wie sie sich einst auch Libra und Diem angenommen haben. Ob die geplante Weltwährung Worldcoin genauso abgewürgt werden kann wie Libra und Diem, bleibt offen – Altman und seine Crew kennen das Muster und werden sich Gedanken dazu gemacht haben.

Sind Staaten und Staatenbünde in der Lage, eine Welt-ID und eine digitale Welt-Währung zu schaffen? Wenn nein, weil Partikulärinteressen im Vordergund bleiben, dürfen dann private Gruppierungen und Unternehmen übernehmen? 

Kryptoprojekte funktionieren per Definition dezentral – ist es dann statthaft, mit Worldcoin ein Projekt zu lancieren, das nicht dezentral ausgelegt ist? Ein Gedanke vorweg: zahlreiche bestehende DeFi-Projekte sind alles andere als dezentral, hier hat die dezentrale Idee in Teilen ihre Unschuld schon längst verloren.

Ist es vertretbar, Millionen von Menschen dafür zu bezahlen, dass sie ihre Iris scannen lassen, ihre biometrischen Daten preisgeben und damit zu World-ID-Inhabern werden? Auch hier ein Gedanke dazu, der einen anderen Aspekt einbringt: Worldcoin-Tokens vom Start weg in Umlauf zu bringen, ist eine clevere Massnahme. Mit diesem Vorgehen sorgen Altman und seine Crew dafür, dass Worldcoin-Tokens sehr schnell im Markt zirkulieren und dieser Markt liquide funktionieren kann.

Zahlreiche Fragen bleiben offen, die sich erst im Laufe der Zeit konkret diskutieren und klären lassen. Ob Tools for Humanity mit dem Worldcoin-Projekt irgendwann wirklich grosse Brote backen kann oder die geplante Welt-Währung an zu viel Widerstand scheitern muss, wird sich zeigen. 

Unabhängig von allen offenen Fragen: Worldcoin ist eine visionäre Idee mit ehrgeizigen Zielen – und deshalb ein fazinierendes und spannendes Projekt.