Ein Kommentar zum Auszug der Diem Association

Facebook-Währung Diem: USA-Poker – die Schweiz und Europa sind den Strippenziehern blauäugig auf den Leim gegangen

Flaggen USA gegen blauen Himmel
Bild: MH | Getty Images

Was sich lange Zeit angefühlt hat wie ein gemeinsamer Kampf gegen die böse, böse Facebook-Währung Diem, entpuppt sich als erfolgreiche Taktik der USA.

Das ambitionierte Libra-Projekt (seit Dezember 2020 Diem-Projekt) ist Mitte 2019 von der Libra Association in der Schweiz (Genf) gestartet worden. Nichts weniger als ein neues und digitales Zahlungssystem sollte da weltweit auf den Weg gebracht werden – mit einer digitalen Währung, dem Libra (heute Diem). Details zum Start der Projekts und zu ersten Reaktionen gibt's hier und hier.

Der als Stable Coin konzipierte Libra sollte an einen Währungskorb gekoppelt werden, bestehend aus Dollar, Euro, Pfund, Yen und Singapur-Dollar.

Das von den USA und auch anderen Gegnern gerne als Facebook-Währung bezeichnete Projekt, ist von Facebook wohl iniziiert, in der Libra Association (heute Diem Association) jedoch unter eine sehr viel breitere Trägerschaft gestellt worden.

Die USA schiessen aus allen Polit- und Regulierungs-Rohren, suchen und finden Koalitionspartner in Europa

Kaum waren die Pläne publiziert, ergoss sich eine Welle von Ablehnung und harscher Kritik über das gross gedachte und ambitionierte Projekt. Der Niedergang der konventionellen Währungs- und Zahlungssysteme wurde insinuiert und die geschürten Ängste nahmen bemerkenswerte Formen an.

Wichtig zu wissen, es war nie in Frage gestellt, dass ein Projekt dieser Grössenordnung vernünftig reguliert werden muss. Hysterische Wortmeldungen aus den USA, Symptome von Schnappatmung und bald schon geschmiedete Verhinderungspläne aus Kreisen von Politik und von Zentralbanken hatten jedoch im Konzert der Reaktionen deutlich mehr Gewicht als Neugier, Interesse am Projekt oder sachliche Vorschläge für eine mögliche Regulierung.

Der blosse Gedanke, dass die Digitalwährung Libra über die Zuckerberg-Kanäle von Facebook, Instagram und WhatsApp den Weg zu rund 2,6 Milliarden Nutzern finden könnte, hat die USA in Aufregung und Panik versetzt. Man hat Währungs- und Zahlungssysteme, Zentralbanken und geradezu auch den finanziellen Weltfrieden in Gefahr gesehen und massiv gegen das Libra-Projekt aufgerüstet. 

Der dannzumalige US-Finanzminister Steven Mnuchin griff zur grossen Keule und erklärte bereits Mitte Juli 2019 in einer Pressekonferenz das Thema Libra höchst dramatisch zur "nationalen Sicherheitsfrage" für die USA. Damit war schon mal vorgespurt, unter welchen Prämissen die USA europäische Politkreise in die Diskussion einbeziehen will.

Maxine Waters, die Vorsitzende des Finanzausschusses im US-Repräsentantenhaus, meinte: 

Wir können es nicht zulassen, dass Facebook von einem Schweizer Bankkonto aus eine riskante neue Kryptowährung ohne Überwachung betreibt

Waters wusste auch zu diesem Zeitpunkt, dass Bankkonto- und Krypto-Aktivitäten aus der Schweiz durchwegs reguliert erfolgen und nicht "ohne Überwachung" bleiben. Dies im Unterschied zu den USA, welche 2019 den Umgang mit Kryptowährungen regulatorisch noch nicht schlüssig definiert hatten.

Eine Delegation des US-Repräsentantenhauses in beachtlicher Stärke von sechs Abgeordneten, angeführt von der Vorsitzenden des Finanzausschusses Maxine Waters, war Ende August 2019 im Bundeshaus in Bern zu Gast, um die Schweiz auf den gewünschten USA-Kurs einzuschwören. Offensichtlich mit Erfolg. War die innovations- und kryptofreundliche Schweiz ursprünglich erfreut über die Libra Association in Genf, gab Bundesrat Ueli Maurer nach einer überraschenden Schubumkehr zu Protokoll:

Libra ist in dieser Form eigentlich gescheitert – die Schweiz kann Libra in der vorliegenden Form nicht bewilligen

Die USA haben auch im übrigen Europa lobbyiert, Druck aufgesetzt und Mitstreiter gesucht, welche für die USA das weitere Lobbying in Europa übernehmen und Libra den Boden entziehen – ebenfalls mit Erfolg, die Amerikaner sind fündig geworden. Als besonders eifrige Verbündete der USA im vermeintlich vereinten Kampf gegen das Böse haben sich die Finanzminister von Frankreich und von Deutschland, Bruno Le Maire und Olaf Scholz, hervorgetan, welche auch die übrigen Finanzminister der G7-Staaten überzeugt haben: den Libra muss man ablehnen, verbieten, blockieren – in ganz Europa. Scholz im September 2019 während einer Podiumsdiskussion zum Thema:

Wir können keine Parallelwährung akzeptieren, das muss man klar ablehnen

Die Kampagne der USA richtete sich nicht gegen Libra, sie verfolgte andere Ziele

Unsere Redaktion hat angesichts der panischen bis hysterischen Reaktionen hüben und drüben im Juni 2019 die Vermutung geäussert, dass die USA das Libra-Projekt wegregulieren wollen. Wir lagen falsch, die Entwicklung von 2019 bis 2021 schreibt eine andere Geschichte.

Nach aktuellem Stand haben die USA wohl vordergründig das Projekt bekämpft und dazu eine grosse Zahl willfähriger Kampfgenossen in Europa rekrutiert. Allerdings kaum mit dem Ziel, das Projekt Libra wirklich zu verhindern – vielmehr mit der Intention, der heutigen Diem Association die Möglichkeiten für einen Start in Europa und in der Schweiz zu entziehen, um das Projekt in die USA zu holen. 

Der Plan, wenn es denn einer war, hat funktioniert. Die Diem Association hat Mitte Mai verkündet, die Welt mit einem globalen Zahlungssystem weiterhin erobern zu wollen – allerdings nicht mehr wie geplant von Europa und von der Schweiz aus, man will die Revolution nun aus den USA heraus starten, wir haben berichtet.

Dieser Gesinnungswandel war für die Schweiz überraschend, für die USA mit Sicherheit nicht. Diem hat einen neuen Ankerplatz gefunden – mit Bedingungen und Konditionen, welche dem Big Tech-Projekt die Chance geben, die Welt zu erobern. Europa war beschäftigt mit lautstarkem Verhindern und Blockieren, derweil die USA geräuschlos ihre Tore geöffnet haben.

Die USA nutzen ihre Chancen und öffnen die Tore für die Diem Association

In heutiger Betrachtung haben sich die USA weniger am Diem-Projekt an sich gestört, mehr daran, dass ihr Einfluss und auch ihr direkter Nutzen beschränkt bleiben wird, wenn das Projekt in Europa startet und die Diem Association ihren Sitz in der Schweiz hat. Den USA waren vor allem fünf Punkte ein Dorn im Auge:

Die Regulierung ausserhalb der USA
Auf die Regulierung einer digitalen Weltwährung haben die USA wohl Einfluss, aber nicht das alleinige und prägende Sagen, wenn die Diem Association in Europa sitzt. Zudem war die Regulierung für den Kryptobereich in der Schweiz bereits deutlich weiter und fortschrittlicher im Vergleich zu den USA.

Lösung: Die USA haben ihre eigene Krypto-Regulierung angepackt und vorangetrieben und dürften in den bisher noch nicht veröffentlichten Teilen der Regulierung gute Lösungen für das zukunftsorientierte Diem-Projekt gefunden und angeboten haben. So gut, dass sich die Diem Association mit Umzug und Überzeugung der USA-Regulierung unterstellt. Das war vor zwei Jahren noch nicht der Fall, deshalb hat die damalige Libra Association den Standort Schweiz gewählt.

Der US-Dollar als globale Leitwährung
Ein Stable Coin als Weltwährung, der an einen gemischten Währungskorb aus Dollar, Euro, Pfund, Yen und Singapur-Dollar angebunden ist, trägt den Interessen der USA und der beherrschenden Stellung des Dollars nicht in gewünschtem Masse Rechnung. 

Lösung: Dieses Problem ist vom Tisch, der Diem wird zum Start nur an eine Währung gekoppelt, den US-Dollar. Die zuweilen etwas schwächelnde globale Leitwährung kann durch das Projekt neue Stärke gewinnen. Vor allem dann, wenn der Diem tatsächlich zu einem weltweiten digitalen Zahlungssystem avancieren sollte. Dieses Ziel dürften die USA neu mit der Diem Association teilen. Ob es später, unter Kontrolle der USA, auch einen Euro-Diem oder andere Währungs-Diems geben wird, bleibt offen.

Das Defizit der fehlenden digitalen Währung (CBDC)
Der Stable Coin einer privaten Organisation richtet den Scheinwerfer auf eine deutliche Lücke – die USA waren 2019 noch meilenweit von einem eigenen digitalen Dollar entfernt, keine Central Bank Digital Currency (CBDC) in Sicht. Ähnlich weit entfernt übrigens wie Europa und die EU von ihrem digitalen Euro.

Lösung: Die USA wie auch die EU denken, motiviert durch das Diem-Projekt, ernsthafter über eine eigene digitale Währung nach – zumal China hier seit längerer Zeit schon mit einer konkreten Lösung weit vorausrennt. Der Diem ist für die USA natürlich nicht der Ersatz für die CBDC, aber ist der Diem im eigenen Haus, verschafft das den USA in Sachen Stable Coin Vorsprung und dem CBDC-Projekt mehr Zeit.

Der Standort Schweiz
Die Libra Association (heute Diem Association) hat sich aus Sicht der USA vor zwei Jahren in der Wahl ihres Standorts gewaltig vertan – was soll die Organisation in der krypto- und innovations-offenen Schweiz? Big Techs sind in den USA zu Hause und stehen unter dem Einfluss und der Regulierung der USA, das soll auch so bleiben. Punkt.

Lösung: Auch dieses Problem ist vom Tisch, die Diem Association bricht ihre Zelte in der Schweiz ab, ist in die USA umgezogen und wird ihr Projekt dort starten.

Die Frage von Datenschutz und Nutzerdaten
Mark Zuckersbergs Facebook ist Teil des Diem-Projekts – und Zuckerbergs Unternehmen sind den Beweis bisher schuldig geblieben, dass sie für einen sorgsamen Umgang mit Nutzerdaten stehen. 

Lösung: Dieses Thema ist ein Dauerbrenner, Zuckerberg und andere Verantwortliche haben auch im Zusammenhang mit dem Diem-Projekt in mehreren Anhörungen vor verschiedenen Ausschüssen Rede und Antwort stehen müssen. Das Problem wird ein Dauerbrenner bleiben, ist für die Behörden allerdings besser kontrollierbar und beherrschbar, wenn Diem in den USA domiziliert ist.

Die Rolle der USA im Libra- und Diem-Projekt

Man darf davon ausgehen, dass die Diem Association niemals den Standort von der Schweiz in die USA gewechselt hätte, wenn nicht über Absprachen und Agreements klare Voraussetzungen für den Start der neuen digitalen Weltwährung geschaffen worden wären. Die damalige Libra Association hat sich vor zwei Jahren mit Bedacht die innovationsfreundliche und regulierungsfortschrittliche Schweiz ausgesucht, weil in der dannzumaligen Krypto-Regulierungswüste USA der Boden für das Projekt nicht gegeben war.

Der überraschende Move Mitte Mai lässt die eifrigen Widersacher, entschlossenen Kämpfer und vehementen Gegner in Europa nicht über alle Massen gut aussehen. Sie alle wähnten sich Schulter an Schulter mit den USA, motiviert durch deren Repräsentanten und versorgt mit toxischen Argumenten, um im Kampf gegen das Böse die digitale Weltwährung Diem zu verhindern. Sie haben sie überhaupt nicht verhindert, aber sie haben als Steigbügelhalter für die USA ganze Arbeit geleistet.

Nun stehen sie alleine da, die beflissenen Blockierer. Ohne ihren erklärten Feind und Gegner. Der hat die Einladung seiner grossen Mutter angenommen und hat sich in Richtung USA verzogen, was ihm auch keiner verdenken mag. Sind die Widerstände zu gross, zieht man eben um. Dorthin, wo das Klima (scheinbar plötzlich) innovations- und kryptofreundlicher geworden ist, wo ambitionierte Projekte gross gedacht werden dürfen.

Dieses Klima präsentiert sich heute offenbar deutlich freundlicher, als zu vermuten gewesen wäre. Die einstigen Anstifter zum Widerstand, die USA, waren hinter den Kulissen ganz offensichtlich sehr aktiv, haben Gespräche geführt, Vereinbarungen geschlossen, ihre Regulierungen angepasst, Willkommens-Drinks gemixt und damit der Diem Association den roten Teppich ausgerollt. Für die Schweiz völlig unerwartet, für Europa ebenfalls.

Man wird den Eindruck nicht los, dass sich die vehementesten Gegner des Diem aus Politik und Regulierung in Europa schlicht und einfach vor den Interessen-Karren der USA haben spannen lassen. Naiv beseelt vom Glauben an die gemeinsame Sache, überzeugt, auch ihre eigenen (eingeflüsterten) Interessen zu verteidigen – ohne zu merken, wessen Karren sie da ziehen.

Das Resultat liest sich ernüchternd: Europa bekommt kein Big Tech, das dem weltweiten digitalen Zahlungsverkehr eine neue digitale Note geben könnte. Die USA schon.

Hatte und hat die Diem Association auch Freunde?

Allen voran und ziemlich überraschend die beste Freundin: die USA. Aus nachvollziehbaren, vitalen und eigennützigen Gründen. 

Auf der Seite der europäischen Politik und Notenbankchefs sind eher keine Freunde zu finden, bei den Banken interessanterweise schon. Zahlreiche Bankenchefs haben Potenziale gesehen und über die Möglichkeiten einer Kooperation nachgedacht.

Adrian Schatzmann, ehemaliger strategischer Berater der Schweizerischen Bankiervereinigung, hat sich 2019 über die blinde Angst und die Vehemenz der Ablehnung aus politischen Kreisen gewundert und einen bemerkenswerten Artikel zu den Chancen für Europa und für die Banken publiziert.

Dennoch, der Kreis der Freunde in Europa ist zu klein geblieben, um sich willkommen zu fühlen. Kein wirklich fruchtbarer Boden und deshalb sehr schlechte Voraussetzungen für ein Big Tech, das ein weltumspannendes Projekt von Europa und der Schweiz aus starten wollte.

The Great Pretender

Die USA wissen wie Strategiespiele funktionieren. Und sie wissen auch, wie man Partner ins Boot nimmt, die von Anfang an auf den Feldern der zu opferndern Bauern stehen. Dass die Bauern keine Ahnung haben, auf welche Mühlen sie ihr Wasser leiten, ist nicht den USA anzulasten – man nennt das Politik und es zeigt im aktuellen Fall lediglich die Unterschiede in der Augenhöhe zwischen Europa und den USA.

Haben die USA diese Strategie von Anfang an verfolgt, weist die Libra-Geschichte nahezu schon Shakespear'sche Züge auf. Ist den Politikern, Regulierern und Finanzbeauftragten aus den USA der geniale Schachzug erst im zweiten oder dritten Akt der Tragödie eingefallen, dann bleibt der Move clever und das Resultat dasselbe.

Für die USA ein verdientes Ergebnis – der Plan war stark, der Gegner schwach, die Besetzung des Ensembles in Europa und die Orchestrierung insgesamt perfekt durchdacht und organisiert.

Die Macherinnen und Macher der Strategie sehen sich einmal mehr bestätigt: Europa hat nicht das Mindset für Big Techs, bleibt jedoch ein beeinflussbarer und streckenweise sogar auch willfähriger Partner. Mit einer klugen Strategie, mit intelligent ausgeworfenen Ködern und mit genügend Druck kommen die Dinge so, wie man die Dinge haben will.

Die verfolgte Strategie dürfte auch in Zukunft als Blaupause dienen, sollte es wieder mal darum gehen, Chancen aus Europa zu verscheuchen und in die offenen Arme der USA zu treiben.

Europa wird auch in Zukunft keine Big Techs hervorbringen

Interessant bleibt, dass der Umzug der Diem Association von der Schweiz in die USA praktisch keine Reaktionen in Europa ausgelöst hat. Bedauern schon gar nicht, im Gegenteil. Man scheint erleichtert zu sein, sich das Problem Diem vom Hals geschafft zu haben. Dass da nicht ein Problem seine Zelte abgebrochen hat, sondern eine Riesenchance den Kontinent gewechselt hat, scheint noch nicht im Bewusstsein angekommen zu sein. Die USA freut's, Europa hat das Nachsehen.

Empfindet die europäische Politik den Verlust von Diem nicht als solchen, ist es allerdings auch keiner. Dann ist es schlicht die Bestätigung, dass Europa mit gross gedachten und regulierbaren Digital-Projekten nichts anfangen kann und möglicherweise auch in Zukunft mit geschlossenen Augen und Scheuklappen alle Chancen in Richtung USA oder Asien verscheuchen wird. Das hat ja auch dieses Mal prima geklappt.