Radical Change – Wanted: Leader

The State of Digital Leadership – Gedanken zu brennenden Themen und eine Nachlese zum WorldWebForum 2020

WorldWebForum 2020, Roger Hallam
Roger Hallam, Gründer der Bewegung Extinction Rebellion (Bild: Patrick Comboeuf)

«Was müssen wir heute tun, um Werte zu schaffen, die auch für die nächsten Generation nachhaltig sind?» Der Versuch einer Einordung zu brennenden Themen.

Wir stehen vor einer zweiten grossen Leadership-Transformation in der Geschichte der Menschheit. Immer stärker bröckelnde hierarchische Strukturen sind eine Herausforderung für Organisationen, Gesellschaft, Führungskräfte und Mitarbeitende. Das diesjährige WorldWebForum stand im Zeichen dieses radikalen Wandels und ruft imperativ nach Leadern. Wir ordnen ein.

Über hundert Innovationsführerinnen und -führer aus der ganzen Welt, 1'500 Jungunternehmer, Firmenchefinnen und Investoren waren Teil des diesjährigen WorldWebForum vom 16. bis 17. Januar in Zürich. Tausende verfolgten die Talks live an den Bildschirmen. An der grössten Digitalkonferenz der Schweiz zum Thema «Digital Transformation & Thought Leadership» stand eine Frage im Zentrum: «Was müssen wir heute tun, um Werte zu schaffen, die auch für die nächsten Generation nachhaltig sind?»

Auf der Hauptbühne eröffnete Joschka Fischer, ehemaliger deutscher Aussenminister, blieb jedoch im Gespräch mit Bruce Gibney, VC & Buchautor, für seine Verhältnisse äusserst vage. Die Empfehlung, die Schweiz solle der EU besser fernbleiben, dort wären schon genug Euroskeptiker, war eines seiner pointiertesten Votums. Aber auch für ihn ist klar: die grossen globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Migration und Freihandel können nicht auf der Ebene eines Nationalstaates sinnstiftend gelöst werden.

Am anderen Ende des Spektrums bot Roger Hallam, Gründer der Bewegung Extinction Rebellion in seinem Kurzreferat einen gewaltigen Kontrast zum Elder Statesman Joschka. Hallam warnte eindringlich:

Werte bedeuten nichts. Was heute zählt für die Welt, ist Mut. Mut, um aus Werten Handlungen zu machen. Du kannst Werte, Werte, Werte haben. Aber wenn Du nicht handelst, passiert absolut nichts.

Ähnlich frontal sprach Ann Cairns, Excutive Vice Chairman Mastercard, zu den Anwesenden über Inklusion vs. Diversität. Geschlechter-Diversität ist nicht genug. Es braucht unbedingt auch ein bewusstes Adressieren der anderen Dimensionen und die Bereitschaft zur echten Kooperation.

Diversität ist bloss eine Einladung zur Party. Erst Inklusion fordert auch aktiv zum Tanz auf!

Radical must be the new normal

Diesem selbst proklamierten Anspruch des WorldWebForums wurden die umtriebigen Organisationen rund um CEO Fabian Hediger mit dem Line-up der Speaker durchaus gerecht.

Mike Butcher, Redaktor der Plattform Techcrunch, entlockte der Whistleblower-Bekanntheit Brittany Kaiser delikate Hintergrundinformationen zum Cambridge Analytica-Skandal. Überhaupt wurde den virulenten Themen Datenschutz, Vertraulichkeit und Fake News beachtlich viel Raum geschenkt. Der eidgenössische Datenschützer Adrian Lobsiger passte mit seinem Referat ebenso ins Schema wie Arif Khan. Letzterer präsentierte mit seinen AI Bots, welche Deep Fake Videos & News zu entlarven vermögen, einen durchaus positiven Gegenentwurf zum düsteren Szenario einer von staatlichen (oder anderen) Mächten gesteuerten Medienwelt.

Datenschutz ist immer auch eine Frage der Perspektive. Entsprechende Debatten mit einem Chinesen, einem Amerikaner oder einem Europäer führen zu teilweise immens unterschiedlichen Resultaten und Meinungen.

Europa steht vor einer Weggabelung

In Europa gibt es 1,5 Millionen mehr Softwareentwickler. Aber nur die USA und – mit Abstrichen die Volksrepublik China – haben bei Suchmaschinen, Social Media, E-Commerce, Plattformen, Cloud Computing und mobilen Betriebssystemen echte Skalierung hingekriegt.

Apple wäre gemessen am Umsatz die 15.-grösste Nation der Welt. Google alleine hat mehr als 300 Unternehmen gekauft und smart mit der eigenen Organisation verzahnt. Auf die alte Welt in Europa warten gewaltige Herausforderungen. Trotzdem gibt es auch in Europa einige Assets, die durchaus erfolgversprechend scheinen.

Die Innovationsweltmeister der letzten Jahre stammen aus Europa. Bei der Finanzierung von Jungfirmen in einem frühen Stadium stehen wir unseren Peers in Nordamerika und im fernen Osten in nichts nach. Bloss bei den nachgelagerten Wachstumsstufen hapert es gewaltig. Europäische Politiker und Regulatoren bekämpfen Skalierung deutlich öfter, als dass sie Gründer mit den richtigen Rahmenbedingungen unterstützen.

In seiner Keynote skizzierte Pal Erik Sjatil von McKinsey den Weg:

Entgegen dem im Silicon Valley oft propagierten "Früh Scheitern" müssen insbesondere wir Europäer wieder lernen, Erfolg stolz zu umarmen. Erfolgreiche Skalierung ruft nach ambitionierten Leadern, welche ihre in der Vergangenheit bewährten Defensivstrategien zugunsten einer mutigeren, offensiven Taktik aufgeben.

Technologischen Disruption gelingt nur ausserhalb der Komfortzone

«Growth & Comfort Don’t Co-Exist» – Rashik Parmar von IBM sorgte mit dieser griffigen Aussage beim einen oder anderen Zuhörer für etwas Unbehagen. Bloss, es ist offensichtlich, dass sich gerade etablierte Unternehmen rasch dieser unangenehmen Wahrheit stellen müssen. Ansonsten wird der Wachstums-generierende globale Innovationszug ohne sie abfahren. Die teilweise sehr gut konzipierten Tech Tracks boten eine anregende Mischung zwischen Information und Do-How. 

Blockchain – von der geheimen Affäre zur Liebesbeziehung mit Big Finance?

In den von German Ramirez, CEO von The Relevant House, hervorragend moderierten Blockchain-Sessions wurde vielen Teilnehmenden bewusst, dass wir die Battle-Phase "Tech Nerds gegen etablierte Unternehmen" mittlerweile verlassen haben. In der kommenden Dekade wird die geheime Liebesaffäre zwischen traditionellen Finanzinstituten sowie den politischen Mächten auf der einen und der rasch wachsenden Blockchain-/Crypto-Gemeinschaft auf der anderen Seite endlich offiziell.

Gibt es ein Happy End? Nun, darüber werden Meinungsführer und Vordenker massgeblich mitentscheiden, eben weil sie die Zukunft aktiv auch ausserhalb ihrer Komfortzone mitgestalten.

Dem Klimawandel begegnen ohne das eigene Essverhalten zu ändern?

Einen spannenden Technologieansatz, den CO2-Fussabruck der Fleischesser zu reduzieren, präsentierte Brian Spears von New Age Meats. Gemäss einer kürzlich publizierten Studie der Oklahoma State University mögen 90 Prozent der Befragten Fleisch auf ihrem Speisezettel. Gleichzeitig wollen aber mehr als 47 Prozent der gleichen Gruppe Schlachthäuser verbieten.

Dieses offensichtliche Paradoxon löst New Age Meats, indem sie Zellen aus lebenden Tieren (aktuell Schweine) extrahieren und damit im Labor Fleischprodukte "züchten". In Blindtests schmeckten die ohne reale Schweinefleischzugabe produzierten Würste sogar besser als das klassische Pendant. Zwar liegen die Kosten mit gegen USD 100 pro Wurst noch jenseits eines realistischen Massenmarkts, aber wenn Lernkurve und technische Fortschritte sich ähnlich rasant entwickeln wie bisher, ist auch das nur eine Frage von wenigen Jahren.

Libra – If you want to go fast, go alone. If you want to go far, go together.

Ein viel beachtetes Referat hielt Dante Disparte, der Head of Policy & Communications von der Libra Foundation, der im Gegenwind stehenden Stablecoin-Zahlungsplattform des Konsortiums unter der Leitung von Facebook und anderen Plattformgiganten.

Disparte räumte zwar ein, dass bei der Lancierung nicht alle Szenarien optimal orchestriert wurden. Gleichzeitig gab er sich aber auch zuversichtlich, dass gerade die Interoperabilität hinter Libra ein wichtiger Hebel sein wird, um die Kritiker zu überzeugen, der Idee eine gewisse intellektuelle Offenheit entgegenzubringen.

Dies scheint nicht komplett illusorisch, denn der Status quo im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr ist alles andere als überzeugend. Zur Illustration nutzte Disparte E-Mail als digitale Metapher. Das Senden einer Nachricht von einem Gmail- an einen Hotmail-Account würde analog nämlich mehr als 5 Tage dauern und über USD 30 kosten. Das kann (und darf) nicht die Lösung sein, welche Regulatoren und Politiker als Benchmark verteidigen wollen.

Die digitale geprägte Zukunft verlangt nach anderen Organisationsmodellen

Ebenfalls klug orchestriert waren die Leadership- und Organisations-Tracks. Das hochkarätig besetzte "F@%# Efficiency" Panel vertiefte in zwei Sessions wichtige Aspekte transformationaler Führung. Janina Kugel, CHRO Siemens, Giovanni Giuliani, Head of Innovation bei Zurich Insurance und Heiko Hutmacher, CHRO Metro, teilten ihre Erfahrungen auf der Kommandobrücke von unternehmerischen Supertankern.

Einigkeit herrschte darüber, dass kundenrelevante Innovation und Ideen zur Effizienzsteigerung heute mehr denn je bottom-up aus der ganzen Organisation kommen müssen. Bei der Zurich Versicherung hat die Geschäftsleitung unter anderem vor kurzem eine Mitarbeiterin prämiert, deren Vorschlag, die Anzahl der Steuerungsausschüsse um 30 Prozent zu reduzieren, innerhalb von wenigen Wochen umgesetzt wurde.

#FutureOfWork setzt auf den Menschen

Weitere Inputs zur Ausgestaltung der strategischen Unternehmensagenda in den kommenden Jahren lieferten die von Angelika Reich, Partner bei McKinsey, umsichtig geführten #FutureofWork-Blöcke. Wenn Organisationen sich nicht rasch um Up- und Re-Skilling gerade ihrer weiblichen Belegschaft kümmern, werden sie dem sich immer stärker abzeichnenden Mangel an Wissensarbeiter*innen und Fachkräften nicht Herr.

So forderten Vicki Walia von Prudential und Kamal Ahluwalia von Eightfold ihre Panelgäste auf:

Fokussiert euch auf die Potenziale und ermutigt Mitarbeitende über alle Hierarchiestufen hinweg zu mehr Growth Mindset

Gibt es ein Patentrezept für erfolgreiche Transformation (und gegen das Post-Conference-Dilemma)?

In diesem Punkt waren sich wohl alle Anwesenden einig. NEIN!

Wenn wir über Wandel sprechen, sollten wir unbedingt auch ausloten und uns sehr bewusst machen, was passiert, wenn wir nichts tun. Arroganz und die verstaubten Erfolgsrezepte der Vergangenheit sind uns diesbezüglich keine Hilfe. 

Können wir eine bessere Zukunft erschaffen? Hell, yeah! Leadership ist Tun – am besten übt man jeden Tag. 70 Prozent im Kerngeschäft, 20 Prozent an Nebenprojekten und 10 Prozent an den mutigen Moonshots.

Agilität ist lernbar, idealerweise in Teams. Es braucht etwas Disziplin, die Monotonie der langweiligen Wiederholungen auszuhalten. Transformation ist ein Marathon, kein Sprint. "Nein" zu sagen braucht eben auch Energie. 

Neue Visionen, Gestaltungswille und der Mut zur Umsetzung sind unerlässliche Attribute für jede Führungskraft und jede Wissenarbeiterin. Das mag anstrengend klingen – und ist es auch. Trost spendet aber vielleicht die Erkenntnis, dass selbst bei Piraten die Schatzkarten noch nie linear waren.

Der Autor: Patrick Comboeuf

Patrick Comboeuf ist einer der profiliertesten digitalen Vordenker der Schweiz. Neben dem Fachgebiet Künstliche Intelligenz im Finanzwesen berichtet er für MoneyToday.ch über Themen wie Digital Finance, Blockchain, DeFi, Web3 sowie ESG & Sustainable Investing.

Mehrere Wochen im Jahr verbringt er im Silicon Valley und anderen Hotspots der digitalen Welt. Seit 2013 arbeitet er freiberuflich für verschiedene renommierte Bildungsinstitutionen, unter anderem als Studiengangsleiter für Post-graduate Masterprogramme wie den CAS AI in Finance & DeFi/Web3 Economist an der HWZ Hochschule für Wirtschaft in Zürich.

Hauptberuflich unterstützt er etablierte Unternehmen sowie aufstrebende Startups als Interims-Manager & Facilitator dabei, ihre Geschäftstätigkeit friktionsfrei in einer "AI First"-Welt zu verankern.

Als früherer Head of Digital Experience bei Swiss Life und als Leiter Digital Business bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) war er federführend verantwortlich für eine Vielzahl von Initiativen, welche die digitale Kundenerfahrung in eine neue Sphäre hoben.

Neben seiner Redaktorentätigkeit für MoneyToday.ch teilt er sein Wissen und seine Einschätzung auch sozial-medial auf LinkedIn und X/Twitter sowie als Prakademiker, Speaker, Moderator oder Podiumsgast auf Konferenzen im In- und Ausland.