Digitalisierung und Disruption

Printmedien: Von Auflagen-Massakern, Spuren der Disruption und Qualitäts-Medien, die weniger werden

Zwei Frauen mit Zeitung und Tablet
Bild: seb_ra | Getty Images

Die Leser- und Auflagenschmelze der letzten Jahre setzt sich fort – einige Titel trifft es besonders hart und: Neue Ideen und Geschäftsmodelle sind gefragt.

Dass die Auflagen von gedruckten Zeitungen und Magazinen seit Jahren tendenziell sinken, ist nicht neu. Bei den halbjährlich aktualisierten Leser- und Auflagenzahlen, erhoben und publiziert von der WEMF (AG für Werbemittelforschung), stellt sich jeweils nur die Frage: Sinkflug oder Freifall?

Die grossen Verlierer der aktuellen Runde

Einige der grossen nationalen Titel, die im Vergleich zum Vorjahr drastisch Federn gelassen haben:

Tageszeitungen Veränderung Leserschaft
Neue Zürcher Zeitung - 14 %
20 Minuten - 9 %
Blick - 8 %
Tages-Anzeiger - 8 %
   
Sonntagszeitungen Veränderung Leserschaft
Sonntags-Blick - 11 %
NZZ am Sonntag - 11 %
Sonntags-Zeitung - 6 %
   
Wochenzeitungen & Magazine Veränderung Leserschaft
Schweizer Illustrierte - 12 %
Schweizer Familie - 12 %
Finanz und Wirtschaft - 7 %

Das sind nur einige Beispiele von Medien mit markanten Einbussen. Zahlreiche weitere Titel und Verlage sind in unterschiedlicher Stärke betroffen und der Abwärtstrend der letzten Jahre setzt sich ungebremst fort.

Im Bereich der Regional- und Lokalzeitungen haben einzelne Titel auch Terrain gewonnen, andere müssen einen gewaltigen Rutsch nach unten verkraften. Zum Beispiel die "Engadiner Post" oder der "Einsiedler Anzeiger" mit einem Minus von jeweils 21 Prozent. Je nach Struktur und Finanzkraft eines Verlages, kann sich ein Erdrutsch in dieser Grössenordnung existenzgefährdend auswirken.

Die grossen Gewinner

Ausreisser nach oben gibt's auch, allerdings in sehr überschaubarer Zahl. An der Spitze stehen zwei Medien:

Die WoZ (Die Wochenzeitung) fällt mit einem Leserzuwachs von satten 15 Prozent auf. Migusto, das Rezept- und Kochen-Magazin der Migros, punktet mit einem Riesensprung von 16 Prozent.

Bei den Wirtschaftszeitungen gehört die Handelszeitung mit 3 Prozent Leserzuwachs zu jenen, welche dem allgemeinen Abwärtstrend trotzen und zulegen können.

Chancen in der Kombination von Print und Online?

Einige Medien können Leserverluste auf der Printseite im Online-Bereich wettmachen oder zumindest abfedern. Zum Beispiel die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), welche bei der Printausgabe mit einem Leserschwund von 244'000 auf aktuell 210'000 massiv Feder gelassen hat. Online hat die NZZ zugelegt und mit 218'000 Personen im Vergleich zur Zeitung erstmals mehr Nutzer bei den digitalen Angeboten.

Ähnliche Entwicklungen gibt's bei Blick und Blick Online (Gesamtreichweite 1,2 Millionen Nutzer) oder auch beim Print- und Online-Angebot von 20 Minuten (total 2 Millionen Nutzer).

Die Kompensation von Leserverlusten im Printbereich durch Nutzerzuwachs auf der Online-Schiene ist erfreulich. Allerdings bedeutet das nicht zwingend, dass Erlöseinbussen auf der einen Seite durch neue Erträge auf der anderen Seite ausgeglichen werden können.

Hintergrund und anhaltende Probleme

Zahlreiche Verlage haben die Digitalisierung schlicht verschlafen, haben Signale des Marktes gar nicht oder falsch interpretiert und die Komfortzone viel zu spät verlassen. Irgendwie wollte niemand sehen und wahrhaben, dass sich der exemplarische Fall einer von Apple nahezu wegdigitalisierten Musikbranche als Entwicklung und als Verlags-Disruption mit anderen Protagonisten wiederholen könnte.

Die Geschichte hat sich wiederholt. Und sie wird auch vor weiteren Branchen, jeweils mit unterschiedlichen Ankündigungs-Signalen und Begleiterscheinungen, nicht haltmachen. Sie erzählt sich jeweils anders, aber im Kern bleibt die Geschichte dieselbe, im Resultat ebenfalls: 

Als man sinkende Leserzahlen und Anzeigenerlöse nicht mehr als vorübergehende Erscheinung, sondern als umwälzende und anhaltende Entwicklung wahrgenommen hat, wurde auf breiter Ebene hastig digitalisiert. Für allzuviel Ziel und Plan war kein Raum, die Zeit drängte. Zu diesem Zeitpunkt waren einige wenige digitale Wegbereiter in Verlagshäusern und eine grössere Zahl ausserhalb von Verlagen bereits deutlich weiter. 

Am weitesten waren die Leserinnen und Leser, insbesondere jüngere Gruppen, welche ihren Medienkonsum teilweise und zunehmend auf Online-Kanäle verlagert hatten. Dabei spielten und spielen Big Techs und Social Medias eine zentrale Rolle. News und Informationen als Kurzfutter, Smartphones, Videos, Podcasts, Streaming und mehr haben dazu beigetragen, die Services und Plattformen neuer Anbieter zu stärken. Parallel dazu hat sich das Mediennutzungs- und Informations-Verhalten breiter Bevölkerungsgruppen drastisch verändert. Eindrückliche Fakten zum Thema gibt es hier und hier und hier.

Ohne Strategie schnappt die Digitalisierungsfalle zu

Digitalisierungsprojekte ohne Strategie lösen keine Probleme, sondern öffnen neue Baustellen. Das ist in jeder Branche der Fall und hat sich am Beispiel der Verlagsbranche einmal mehr bewahrheitet.

Der Autor dieses Artikels war zum Zeitpunkt des ersten panischen Digitalisierungs-Hypes der Verlage mit verschiedenen verantwortlichen Exponenten aus der Branche im Gespräch. Seine Frage nach Strategie und neuen Geschäftsmodellen ist sinngemäss und unisono folgendermassen beantwortet worden:

Wir haben noch keine Strategie, wir müssen jetzt einfach dringend und sofort digitalisieren, was wir haben

In gewisser Weise sind zahlreiche Verlagshäuser im In- und Ausland in die selbst aufgestellte Falle getappt, Probleme aus der analogen Welt zu digitalisieren und sich damit neue und andere Probleme in digitalisierter Form zu schaffen. Die Distanz zu tragfähigen Lösungen ist dadurch nicht verringert worden, sie hat sich vergrössert.

Der nach aussen nicht sichtbare Teil der Digitalisierung in Form von kosteninensiven Redaktions- und Publishing-Systemen hat Prozesse nicht durchwegs flüssiger gemacht, oftmals sind durch nicht harmonisierte und "zusammengenagelte" Systeme und Umsysteme neue Friktionen entstanden.

Der sichtbare Teil der hastigen Digitalisierung nach der späten Einsicht hat auf Verlagsseite oftmals zum Rezept geführt, bestehende Printinhalte mehr oder weniger 1:1 online ins Web zu stellen. Das wiederum hat den Printbereich auf Dauer zusätzlich geschwächt, weil die Online-Ausgaben fast durchwegs kostenlos angeboten worden sind, im Gegensatz zum Print-Abo, das bezahlt werden musste.

Der etwas blauäugige Plan, die Online-Schiene als Abo-Produktionskanal zu nutzen, um aus gratis surfenden Online-Konsumenten zahlende Print-Abonnenten zu machen, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Und es kam noch schlimmer: Von Online-Nutzern breit eingesetzte Werbeblocker haben Attraktivität und Klickraten für Werbekunden zusätzlich reduziert und die Erlöse für Verlage nicht gerade explodieren lassen.

Die erst später entwickelten Strategien, Print und Online als Info-Pakete zu verkaufen und deshalb das Web-Angebot hinter eine Paywall zu stellen, kam bei Nutzern, die man inzwischen an "kostenlos" gewöhnt hatte, nicht durchwegs gut an. Heute haben sich verschiedene Modelle etabliert, welche darauf zielen, Kostenlos-Nutzer nicht zu verlieren und zusätzlich Zielgruppen zu gewinnen, die bereit sind, für ein Mehr an Leistung oder für Qualitäts-Inhalte zu bezahlen. Dennoch bleibt es nach wie vor eine grosse Herausforderung, die Verluste im Printbereich durch die Online-Erlöse zu kompensieren. 

Die Disruption im Verlagsgeschäft ist in vollem Gange

Zahlreiche Verlage haben in den letzten Jahren kräftig diversifiziert und neue Geschätsmodelle entwickelt, die weit über Redaktion und Verlag hinausgehen. Gleichzeitig sind teilweise drastische Sparprogramme durchgezogen worden, welche die bisher hochgehaltene Flagge des Qualitäts-Journalismus im einen oder anderen Verlagshaus deutlich und sichtbar tiefer gehängt haben. Im Zuge dieser Sparkurse stehen zuweilen Tempo und schnelles Ausspielen von News in alle Kanäle über dem Anspruch, sorgfältig recherchierte und fundierte Inhalte anzubieten.

Zudem hat die Konzentration von Redaktionen und Medien dazu geführt, dass heute oftmals aus zentralisierten Newsrooms dieselben Inhalte in zahlreichen Medien und Kanälen angeboten werden. Die Strategie "Schnelle Einheitskost anstelle von recherchierter Vielfalt mit Hintergrund" mag aus Kostengründen einleuchten, das Potenzial zum Rettungsanker auf Dauer hat sie nicht. Ein Alleinstellungsmerkmal sieht anders aus und Einheitskost in Variationen neben nutzergeneriertem Content in zahlreichen Kanäle zu verbreiten, das können Big Techs besser und wirkungsvoller.

Die Geschichte ist noch längst nicht zu Ende erzählt, die disruptive Entwicklung läuft weiter, Google, Youtube, Facebook und andere spielen mit, neue Ideen und Geschäftsmodelle im Verlagsbereich bleiben gefragt und sicher ist nur eines: die einstigen Geldmaschinen der guten alten Print-Verlagszeit stehen still und gehören für alle Zeiten der Vergangenheit an.